Wie geht es weiter für Europa nach der „Schockstarre“ durch den Brexit?

Königstein (el) – Mit den Bürgern über Europa ins Gespräch kommen, dieses Anliegen steht ganz oben auf der Prioritätenliste der Königsteiner Europa-Initiative e.V. Am vergangenen Donnerstag wandte sich daher deren Vorsitzender Hermann Winter an alle Bürger mit der Einladung in die Villa Borgnis zum Dialog über ein höchst aktuelles Thema: „Brexit: Eine Herausforderung für Europa und seine Bürger?“ Dieser Fragestellung in Zusammenhang mit dem Referendum der Briten und den damit verbundenen Herausforderungen für das restliche Europa widmete sich die Moderatorin und Europabeauftragte Natascha Ramadanovic zusammen mit ihren Gesprächspartnern auf dem Podium, Mark Weinmeister, Staatssekretär für Europaangelegenheiten und Serena Petrides, einer langjährig im Taunus lebenden Engländerin. Letztere lebt seit 1981 in Hessen und machte keinen Hehl daraus, dass ihr der Entscheid ihrer Landsleute „höchst peinlich“ sei.

Auch der Staatssekretär legte seinen Ausgangsstandpunkt dar, wobei seine Beurteilung des Vorgangs eher sachlich zu sehen ist und er die Meinung vertritt, dass Europa „den Austritt der Briten verkraften wird.“

Mit ihrem persönlichen Umzug von Großbritannien nach Deutschland verbindet die Engländerin heute wie damals einen notwendigen „Tapetenwechsel“. Aus dem Radio habe sie über den Ausgang des Referendums erfahren und sie gibt unumwunden zu, dass es ein großer Schock für sie gewesen sei. Es habe sie sprachlos gemacht. Vor allem erschreckt sie der Umstand, dass die Menschen die „Lügen“ der Austritt-Befürworter geglaubt hätten, denn es sei mit unerreichbaren Lösungen argumentiert worden.

Darüber hinaus hätte viele ältere Menschen die ins Feld geführten emotionalen Argumente überzeugt, wie zum Beispiel, dass die Europäische Union pro Woche Zahlungen von England um die 350 Millionen Pfund verschlinge und dass dieses viele Geld besser in den National Health Service bzw. das staatliche Gesundheitssystem investiert werden solle. Während Mark Weinmeister als Fachmann für Europaangelegenheiten diese Hausnummer bestätigen würde, ergänzt er sie jedoch um einen wichtigen Aspekt, den das Pro-Austritt-Lager aus gutem Grund unter den Tisch hat fallen lassen: Die Briten zahlen nicht nur ein, sie bekommen auch jede Menge Geld von der EU zurück, so zum Beispiel aus „Strukturfonds“ oder ähnlichen Töpfen.

Erschreckend ist auch die Statistik, die das ganze Ausmaß der, fast wie es scheint, aus Ignoranz getroffenen Wahlentscheidung offenbart, die die Moderatorin des Abends vorstellte: 64 Prozent der 18- bis 24-jährigen Briten hätten überhaupt kein Votum in dieser für ihr Land wichtigen Frage abgegeben.

Da müsse man sich doch fragen, warum die Jugend nicht verstanden habe, worum es hier gehe? Eine Erklärung für dieses Verhalten scheint zu sein – da waren sich die Teilnehmer auf dem Podium einig – dass die Jugend zum einen die finanziellen Argumente pro und kontra Alleingang der Briten nicht nachvollziehen kann und andererseits ist es in ihrer Altersgruppe auch nicht „cool“, über Politik zu sprechen.

Interessanterweise hätten viele Menschen erst im Nachhinein verstanden, wozu sie da überhaupt „Ja“ gesagt hätten, ist Serena Petrides überzeugt, die davon Kenntnis hat, dass viele im Nachgang im Internet Suchmaschinen nach dem Keywort „Brexit“ konsultiert hätten, um mehr darüber herauszufinden. Schade findet es die im Taunus lebende Britin auch, dass sie nicht wie ihre Landsleute auch, ihre Stimme zum Referendum abgeben durfte. Das liegt daran, dass sie schon mehr als 15 Jahre im Ausland lebt und ihr der Urnengang somit versagt ist. Dabei sei sie auch weiterhin Britin durch und durch und trage den „Union Jack“ in sich. Die deutsche Staatsbürgerschaft habe sie aber längst beantragt und dies schon lange bevor die Briten nach dem Referendum die Konsulate gestürmt hätten, um die Einbürgerung in Deutschland zu beantragen.

Europa im Herzen zu tragen, das sei ein Gemeinwerk. So sieht es nicht nur Mark Weinmeister, der hiermit wichtige Impulse verbindet. Die Menschen hätten 70 Jahre lang auf diesem Kontinent in Frieden gelebt, in Wohlstand, in Frieden, Freiheit und unter Einhaltung der Menschenrechte. Allerdings warnt der Staatssekretär für Europaangelegenheiten davor, „Briten-Schelte“ zu betreiben. Die Menschen hätten einfach den leichten Versprechungen Glauben schenken wollen. Menschen wollen mitgenommen werden und das „Remain in der EU-Lager“ habe nicht die richtigen Botschaften gehabt.

Den Ausgang des Referendums vom Juni dieses Jahres, das den Austritt von Großbritannien zur Folge haben wird, wenn der Antrag denn auch formal gestellt wird, wovon man ausgehe, hätten die Politiker wie er selbst in Brüssel nicht erwartet, sagt Weinmeister. Bis zum Ende seien sich alle noch ziemlich sicher gewesen, „am Ende klappt das.“ Umso größer sei die „Schockstarre“ hinterher gewesen, als es dann doch anders gekommen sei. Jetzt müsse man das Votum der Briten einfach akzeptieren und handeln, ohne dass es größere „Kollateralschäden“ gebe. Schließlich verzeichne die EU noch 27 Mitgliederstaaten und das solle auch so bleiben, hat Weinmeister nicht etwa den Eindruck, dass sich ein Europa-Frust abzeichnet. Auch für etwaige „Wackelkandidaten“ wie Ungarns Urban sei dies keine Option. „Jetzt herrscht erst mal gespannte Erwartung, wie die Strategie der Briten aussieht“, so der EU-Politiker, der dazu rät, sich vor dem Hintergrund des „Brexits“ einmal die Geschichte dieses Landes anzuschauen, das einmal ein großes Empire gewesen sei, heutzutage ganz anders dastehe, dennoch die Haltung und Einstellung dieser historischen Epoche bewahrt habe. Trump habe in Amerika so ziemlich die gleichen Apelle an die Bürger gerichtet, wenn man sich mal sein Wahlmotto „Make America great again“ vor Augen halte. Dies alles in Verkennung dessen, so Weinmeister, dass man es alles heute „nicht mehr alleine schaffe.“

Jetzt gelte es zu beobachten, wohin das „Schiff“ England mit seinem Steuermann, der Premierministerin Theresa May hinschippere und welches Modell die Briten nach dem „Brexit“ verfolgen, so Weinmeister. Norwegen und die Schweiz seien ja auch keine EU-Mitglieder, aber noch „dran“ an der Europäischen Union. Das könnte auch eine Option sein, allerdings sei hier der Unterschied zu England, dass es sich bei den vorgenannten Ländern um Mitglieder des Binnenraums handele.

Und diesbezüglich sieht Weinmeister ein weiteres Problem am Horizont auftauchen: Mitglieder des Binnenraumes bekennen sich zu den vier Grundfreiheiten im EU-Raum und dazu gehöre auch das Recht der Arbeitnehmer, sich frei in der Eurozone zu bewegen, was die Briten wiederum nicht tolerieren wollten. Schon jetzt zeichnen sich die Folgen des „Brexits“ für die Menschen von der „Insel“ ab: das Pfund verfällt, Rohstoffe werden teurer, die Inflationsrate steigt. Deutsche Firmen seien auch von diesen negativen wirtschaftlichen Folgen betroffen. So zähle England beispielsweise zum größten Absatzmarkt für den Autobauer Opel.

„Die Verunsicherung darüber, wie sich die künftigen Handelsbeziehungen mit den Briten darstellen, ist groß“ so Weinmeister, schließlich sei Großbritannien nach den Vereinigten Staaten der größte Handelspartner der Deutschen.

Natascha Ramadanovic (Mitte) im Gespräch mit der Britin Serena Petrides und Mark Weinmeister, Staatssekretär für Europaangelegenheiten, über die Folgen des Brexits.

Foto: Schemuth



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