Immunsystem-Impfung gegen den Rollstuhl? Entzündungen gar nicht erst zünden lassen

Königstein (hhf) – Nach der eher allgemein gehaltenen Einführung begrüßte Moderator Professor Dr. Diether Döring die treue Zuhörerschaft des Königsteiner Forums in der zum Hörsaal umfunktionierten Schalterhalle der Frankfurter Volksbank zum ersten Referat, das sich mit einem ausgewählten Teilgebiet der Medizin beschäftigt. Das erste „Schlaglicht“ in der Jahresreihe „Gesundes Leben – die Perspektiven“ sollte auf das Immunsystem fallen, einen „Aspekt unserer Körperfunktionen, der uns als entwickelte Lebewesen lebensfähig hält“, aber auch sehr unangenehme Folgen haben kann, „wenn es aus dem Ruder läuft“.

Sehr zielstrebig näherte sich Professor Dr. med. Ulf Müller-Ladner, Referent des Abends, seinem Spezialgebiet, nach Studium und Klinikanstellungen in Tübingen, Ulm und Regensburg wanderte der Süddeutsche über den Großen Teich und nutzte eine „postdoctoral Research Fellowship“ an der University of Alabama in Birmingham zur Fortbildung. 1999 habilitierte er – wieder in Regensburg – mit dem Thema „Die rheumatoide Arthritis: Molekulare und zelluläre Interaktionen im Synovium“ und wechselte 2004 auf den Lehrstuhl für Innere Medizin an die Justus-Liebig-Universität in Gießen. Ein Jahr später nahm er zusätzlich den Posten als ärztlicher Direktor der Abteilung Rheumatologie und Klinische Immunologie der Kerckhoff-Klinik, Bad Nauheim, an, aktuell bekleidet er ab 2015 für zwei Jahre das Amt des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie.

Somit ist aus dem Mediziner mit unüberhörbar süddeutschem Zungenschlag ein „Wahlhesse“ geworden, der sich ganz besonders für den Schnee bedankte, der in ihm heimatliche Gefühle weckt, bevor er sich seinem Vortrag „Rollstuhl und Immunsystem – natürliche Kräfte auf der Überholspur“ widmete. Die Menschheit wäre ohne Immunsystem sicher nicht so weit gekommen, wie sie heute ist, da die Lebenserwartung stark verkürzt wäre, da war sich der Arzt sicher. Anhand mehrerer Beispiele aus der Geschichte führte er dann aber auch vor Augen, wie Fehlfunktionen des „Januskopfes“ Immunsystem das Leben einzelner Personen beeinträchtigen kann: Noch die Mumie von Pharao Ramses II. belegt die Erkrankung an Morbus Bechterew, einer Versteifung und Verkrümmung des Rückgrates, den Maler Pierre-Auguste Renoir brachte rheumatoide Arthritis nicht nur in den Rollstuhl, sondern zwang ihn dazu, sich den Pinsel an der Hand festbinden zu lassen, um noch malen zu können. Dichterfürst und Feinschmecker Goethe schließlich litt erheblich unter Gicht.

Grundlagen all dieser Krankheitsbilder, die sich heute durchweg stark abmildern lassen, ist der „Horror autotoxicus“, eine Fehlfunktion des Immunsystems, das statt eindringender Krankheitserreger eigene Körperzellen angreift. „Das kommt, weil wir uralte Lebewesen sind“, jeder neue Krankheitserreger, der in den Körper eintritt, löst die Produktion neuer Antikörper aus – sollten diese zufällig Ähnlichkeiten mit körpereigenen Zellen haben, geraten diese unter ‚friendly fire‘. Eindrucksvolles Beispiel: Bildliche Darstellungen von entzündlichem Gelenkrheuma, der zu charakteristischer Verkrümmung zum Beispiel der Finger führt, gibt es erst ab dem 16. Jahrhundert, der Verdacht liegt nahe, dass es auf Viren zurückgeht, die Christoph Columbus oder seine Nachfolger aus der neuen Welt mitgebracht haben, wo Skelette der Indianer die Existenz dieser Erkrankung schon früher belegen. Schuppenflechte hingegen, ebenfalls eine Immunreaktion auf der Haut, wird schon im Alten Testament beschrieben.

Exemplarisch anhand der rheumatoiden Arthritis definierte Müller-Ladner die Funktionen der Bestandteile des Immunsystems als ein „Konzert von ausgeflippten Körperzellen“, die dabei aber sehr gut gegen den Patienten harmonieren. Daraus ergibt sich folgender Ansatz für die Medizin, die erkannt hat, dass eine Fesselung des Dirigenten nichts nützt: Mit mehr Mitspielern wird es zwar schwieriger, aber es ergeben sich auch mehr Ansatzpunkte für Lösung. Um im Bild zu bleiben: Die Harmonie lässt sich durch ein Ausschalten der Streicher ebenso stören wie durch Entfernen des Paukisten.

Im Körper des betroffenen Patienten bricht ein wahrer „Gewittersturm“ los, Informationen schnellen hin und her und die Immunzellen produzieren „alles Mögliche“. Gut zu erkennen ist dies zum Beispiel im Stadium der „Früharthritis“ durch erhöhte Durchblutung. Mit dieser Diagnose endete freilich lange die Kunst der Ärzte, man versuchte lediglich, zum Beispiel über Wärme, die Beschwerden von außen her zu lindern, während das Immunsystem zuerst Entzündungen und dann Zerstörungen verursachte. Erst mit der Erfindung des Aspirins vor rund 100 Jahren stand das erste Medikament zur inneren Anwendung zur Verfügung, bis zum wirklichen Durchbruch sollte es aber noch bis zur Jahrtausendwende dauern.

Das Erfolgsrezept lautete: das Immunsystem mit den eigenen Waffen schlagen! Künstlich hergestellte ähnliche Eiweißkörper (nur als Spritze, nicht in Tablettenform wirksam, da leicht verdaulich) können jene „Andockstellen“, an denen die Vernichtungszellen ihre Beute nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip erkennen und sich dort anlagern, blockiert werden: Steckt bereits ein fremder Schlüssel im Schloss, kann man es nicht mehr öffnen. Diese „therapeutischen Antikörper“ nutzen sogar die Transportwege des Immunsystems, um an ihre Einsatzorte zu gelangen, zum Beispiel in Gelenken.

Viele der entzündlichen Krankheiten lassen sich heute auf diesem Wege sehr effektiv behandeln, der Rollstuhl kann fast immer vermieden werden. Zwei Pferdefüße hat diese Therapie allerdings, weshalb sie in der Regel von Fachärzten angewandt wird: Zum einen ist die Wirkung so effektiv, dass eine genaue Justierung der Dosis nötig ist, um das Immunsystem nicht gegen wirkliche Übeltäter außer Funktion zu setzen. Zum anderen sind solche Therapien „nicht ganz billig“. Zwar rechnet der Mediziner gegen, dass auch reichlich Kosten entstehen, wenn ein Patient nicht mehr arbeitsfähig ist und Pflege braucht, dennoch leben nur wenige Teile der Weltbevölkerung so wie viele Europäer auf der „Insel der Glückseligen“, wo Krankenkassen diese Kosten übernehmen oder die neuen Medikamente wenigstens zu bekommen sind.

Obwohl „die Pharmaindustrie auch leben“ muss, setzen die Forscher derzeit ihren Fokus auf eine wesentlich kostengünstigere Behandlungsmethode, die dann weltweit erschwinglich sein sollte. Konsequent orientiert sich der geniale Ansatz wiederum an den Eigenschaften des Immunsystems: Wenn es gelingt, eine Impfung gegen die Autoimmunreaktionen zu entwickeln, „macht der Körper die Medizin selbst“. Im Falle der Entzündungskrankheiten wäre dies möglich, weil „die Bösewichte bekannt“ sind: „Erste Modelle funktionieren schon.“

Nach seinem höchst interessanten Vortrag eröffnete Professor Dr. med. Ulf Müller-Ladner in der Diskussionsrunde noch seine Privat-Sprechstunde für die Gäste des Königsteiner Forums.

Foto: Friedel



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