Senioren endlich besser einbinden

Schneidhain (hhf) – „Das Älterwerden stellt heute keineswegs das Ende der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben dar“, führte Moderator Reinhold Siegberg nach der Sommerpause in den nächsten Vortrag des „Offenen Treffs für jedermann“ ein. Freilich nahmen wohl einige der Stammhörer an diesem Abend lieber am sportlichen Teil des Gesellschaftslebens teil, große Fußballspiele und reichlich Regen sorgten für ungewohnt freie Stuhlreihen im evangelischen Gemeindehaus in Schneidhain.

Ob der TV-Sport aber wirklich spannender war als das Referat von Loring Sittler, „Warum wir angesichts des demografischen Wandels die Potenziale des Alters besser heben müssen“, sei dahingestellt, denn der Redner stellte nicht nur eloquent größere Mengen unumstößlicher Fakten dar, sondern forderte die Politiker – und damit auch die Wähler – nachdrücklich dazu auf, das Thema nicht länger zu verdrängen. Denn obwohl die Schwierigkeiten des demografischen Wandels immer wieder angeführt werden, halten sich zukunftsweisende Steuerungen in äußerst knappen Grenzen. Griechen-Krise und Flüchtlingsströme aber belegen mittlerweile eindeutig, was geschieht, wenn die Politik sich nicht rechtzeitig kümmert.

Gerade deshalb schien es mehr als sinnvoll, mit Loring Sittler einen der beiden Leiter des „Generali Zukunftsfonds“ sprechen zu lassen, denn die Organisation ist politisch unabhängig und hat gerade eine repräsentative Altersstudie zum Abschluss gebracht. Loring Sittler selbst hatte zunächst Anglistik, Geisteswissenschaft und Politik in Freiburg und Gießen studiert, bevor er schließlich an verantwortlicher Stelle Mitarbeiter im Generali Zukunftsfonds wurde und dort unter anderem den Wettbewerb „Jugend debattiert“ aus der Taufe gehoben hat. Bereits 2004 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für sein beständiges beruflich ebenso wie ehrenamtlich verfolgtes Ziel der Förderung der freiheitlich demokratischen Grundordnung.

Das gute Beispiel für ehrenamtlichen Einsatz – und das auch im Fall von Reinhold Siegberg mit 76 Jahren – hatte den vielbeschäftigten Redner dazu bewogen, sich den Termin für den Offenen Treff freizuhalten, es sei sogar sein „Hauptmotiv“ gewesen, bedankte sich Sittler für die Einladung. Zunächst wollte er einige Definitionen als gemeinsame Grundlage für die spätere Diskussionsrunde geben, beginnend bei dem Menschenbild unserer Gesellschaft. Seit der Aufklärung gilt der Mensch an sich als vernunftbegabt, doch ist davon wenig zu sehen, schaut man sich das weltweite Handeln dieser Spezies aktuell an. Von Verantwortung für das handeln ist wenig zu spüren und sogar die Menschenwürde steht immer wieder hinten an.

Stattdessen scheint der Aspekt der Fehlbarkeit recht weit oben zu rangieren und die Trägheit, die nach Einschätzung der katholischen Kirche unter die Kategorie „Todsünde“ fällt. Da der Wunsch nach möglichst viel Freiheit und Selbstbestimmung dem stets in Gemeinschaft lebenden Menschen offenbar große Schwierigkeiten bereitet, ist es wichtig, generell mehr Anreize für vernünftiges Verhalten zu setzen.

So werden auch die unbestechlichen Zahlen der demografischen Entwicklung gerne verharmlost: „Wir werden weniger bedeutet, bis 2030 sind wir 6,8 Millionen weniger“, diese Zahl bezieht sich auf die Erwerbstätigen, die dann nach den Regeln des Rentenvertrages 5,3 Millionen mehr Senioren über 65 Jahre unterhalten müssen.

„Das würde keine Industriegesellschaft aushalten, dafür muss man nicht Mathe studiert haben“ und die Grundlage zur Freiheit ist dann auch weitgehend entzogen, wenn sich nicht bald etwas ändert. Immerhin wird das Renteneintrittsalter dann bei 67 Jahren liegen, doch schon heute arbeitet kaum jemand bis zum Regelalter und die Rentenbezugsdauer liegt aufgrund der höheren Lebenserwartung schon heute bei 19 Jahren – im Gegensatz zu 1950, als sie noch mit durchschnittlichen neun Jahren ermittelt worden ist.

Eine der bereits im Verborgenen diskutierten Lösungen ist eine Absenkung der Rentenhöhe auf bis zu 43 Prozent des letzten Gehaltes, doch auch das hätte einschneidende Folgen: „Wir werden eine gewaltige Altersarmut bekommen und die wird vorwiegend weiblich sein. Meldungen gibt es schon darüber, aber keiner regt sich auf!“ Diese „Verherrlichung der Gegenwart führt zu einer Verwahrlosung der Zukunft“, aussagekräftig sind hier auch die Zahlen zu Pflege und Pflegebedürftigkeit. Während heute von den rund 2,4 Millionen Pflegebedürftigen etwa 70 Prozent (überwiegend von älteren Frauen) zu Hause versorgt werden, wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 verdoppeln, während die pflegenden Damen „leider nicht unsterblich sind“. Der Bedarf an Pflegepersonal ist dann weder personenmäßig zu decken noch zu bezahlen: „Die Pflegeversicherung wird irrsinnige Probleme bekommen.“

Die logische Frage „was hindert uns daran, auf diese Herausforderung angemessen zu reagieren?“ findet leider darin ihre Antwort, dass es uns heute noch relativ gut geht, obwohl zum Beispiel bei der Unterhaltung von Autobahnbrücken die ersten Zeichen des großen Investitionsstaus zu erkennen sind. Seit Jahrhunderten herrscht in Deutschland eine starke Obrigkeits- oder Staatsgläubigkeit, mit der der einzelne Bürger sich von seinen eigenen Aufgaben zu entlasten versucht. Soll der Staat aber immer mehr tun, so werden die Steuern steigen und die Freiheit des Einzelnen nimmt auch weiter ab („Wer will schon den totalen Staat?“). „Jeder will alt werden, aber keiner will alt sein“: Was also muss dringend geändert werden? – Vor allem müssen die staatlichen Aktivitäten grundsätzlich geändert werden, das „Wir machen es für euch“ durch ein „wir unterstützen euch dabei“ ersetzt werden. Während die staatliche Bildung nachweislich nicht optimal funktioniert, zeigen sich aktuell bei den Bemühungen um die Flüchtlinge erste Ansätze in diese richtige Richtung. Es ist also der richtige Zeitpunkt, nun auch neue Lebensformen für die bessere Einbindung älterer Menschen in Gesellschaft und Erwerbsleben zu fordern.

Der Staat sollte dabei möglichst die dezentralen Bemühungen vor Ort unterstützen und zum Beispiel Dinge wie Bauvorschriften so ändern, dass altersgerechter Umbau einfacher wird und auch die Infrastruktur wieder kleinräumiger, um eine längere Selbstversorgung zu ermöglichen. Das aber kann nur der Wähler einfordern, denn Politiker tun Dinge nicht, wenn sie wissen, dass sie dafür nicht wiedergewählt werden. „Wir müssen viel mehr tun gegen die Gleichgültigkeit“ lautet daher das Rezept des Loring Sittler, denn „unsere Demokratie ist nicht nur von Terroristen bedroht, sondern läuft Gefahr, von innen auszutrocknen.“

Auch Bundespräsident Joachim Gauck warnte bereits: „Demokratie kennt Ohnmacht“. Es gilt also für jeden, sich an die eigene Nase zu fassen, was in Form von Bürgerstiftungen und anderem freiwilligen Engagement auch zunehmend geschieht. Dabei gilt es aber auch, Fehler zu vermeiden, so kosten die jeweils einzelnen Versuche, etwas Neues auf die Beine zu stellen viel Energie, eine Vernetzung oder eben staatlich einheitliche Hilfsstruktur würde da viel helfen. Ebenso muss die Gesellschaft als Gesamtheit endlich ein neues Altersbild entwerfen und annehmen, das ganzheitlich aufgebaut ist und vor allem der höchsten Altersstufe über 80 mehr Freiräume gibt, sich einzubringen. Aber auch die Jüngeren müssen unangenehme Einsichten annehmen: „Wir dürfen Freizeit nicht mit Beliebigkeit verwechseln“, denn für das gemeinsame Tragen von Verantwortung gibt es weder Ferien noch Ruhestand.

Konkret bedeutet dies zum Beispiel Zustände wie in den USA, wo Menschen, die sich nicht sozial engagieren sogar schlechter eine Arbeit bekommen oder die generelle Installation von altersgemischten Teams im Berufsalltag: Hier setzt die Wirtschaft Erkenntnisse nicht um, die Studien schon lange zweifelsfrei belegen. Mut darf bei all den bevorstehenden Änderungen machen, dass erste genossenschaftliche Projekte längst erfolgreich funktionieren, vom Kindergarten in Eigenregie bis zur Erhaltung ehemals öffentlicher Schwimmbäder. „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ hatte Immanuel Kant in der Aufklärung gefordert, und genau dies muss heute wieder geschehen. Oder, mit den Worten von Loring Sittler: „Die Angst vor der Zukunft, die wir befürchten, kann man nur bekämpfen durch die Gestaltung der Zukunft, die wir uns wünschen.“



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