Die Lust am Fabulieren – Bodo Kirchhoff liest im Schlosshotel

In Zeiten des „social freezing“ ist Kirchhoffs Bekenntnis zu Liebe und Leidenschaft Balsam für die Seele. Foto: Sura

Kronberg (aks) – Der erste Eindruck täuscht nicht, hier steht einer der besten deutschen Geschichtenerzähler. Bodo Kirchhoff ist eine charismatische Erscheinung und seine Stimme ist betörend schön. Die Aussstrahlung des Frankfurter Schriftstellers ist freundlich und dem Publikum zugewandt. Er ist keiner, der in seinem Elfenbeinturm schreibt und nicht gestört werden möchte. Kirchhoff bewegt sich in der Bibliothek des Schlosses, diesem geheimnisvoll plüschigen Raum mit Hunderten von Büchern, als wäre er hier zuhause. Er freut sich über den antiken Holztisch mit der besonders hübschen Intarsienarbeiten und nimmt Platz. Es ist eine Lust, ihm zuzuhören, er schwelgt in Wörtern, badet in atmosphärischen Beschreibungen und mit feinem Humor bringt er die Gäste immer wieder zum Schmunzeln. Sein neustes Werk „Verlangen und Melancholie“ ist ein Versprechen an barocke ausschweifende Erzählkunst. Kirchhoff zieht seine Leser auf 443 Seiten auch nach „Die Liebe in groben Zügen“ wieder in seinen Bann.

Auch dieses Mal geht es um die Liebe. Allerdings um eine vergangene, denn die Ehefrau des Protagonisten Hinrich, Irene, hat sich das Leben genommen – und er hat es nicht verhindern können. Die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit sind zu schön, um sie abzuschütteln für einen neuen Start, für ein neues Leben. Die Frage gleich zu Anfang: „Wann endet ein Leben? Wenn das Herz nicht mehr schlägt oder wenn es sinnlos geworden ist, das es schlägt?“ Ist die Liebe an sich mehr Segen oder Verhängnis? Schon Homer hat die Liebe mit Scheitern und Tod in Verbindung gebracht und hat doch ihre Nachahmung empfohlen. Kirchhoffs Antwort: „Die Liebe ist eine schöne Idee, die mit dem Tod jeden Film noch besser macht. Für Irene war er die bessere Wahl“.

Die Liebe von Hinrich, früher „Kulturreferent für das Umland“, und Irene ist vorbei, weil sie in Frankfurt vom Goethe-Turm gesprungen ist. Eine große Leidenschaft fesselte sie auch körperlich aneinander. Lustvoll beschreibt Kirchhoff einen glühenden August-Tag und erotische Szenen, die auch die späte Ehe noch prägen, „ihr Rock rauscht lauter als die Wellen“. Der Sonnenbrand danach deutet die Verletzlichkeit der Liebe an: Ein Sonnenbrand, der zeigte, „wie verletzlich ihr Herz war – wie gehäutet.“ Immer wieder treffen ihn ihre Blicke und ihre Tränen: „Sie weinte über einen Höhepunkt, der ein Schlusspunkt war.“

Eros und Thanatos sind bei Kirchhoff komplementär, jede Liebe endet spätestens mit dem Tod. So verleiht die Liebe dem Leben das einzigartige tiefe Gefühl mit einem anderen Menschen verbunden zu sein – mit einem Körper, der alle Sinne lebendig werden lässt. Symbiotische Nähe und unversöhnliche Distanz sind ein Widerspruch, den Kirchhoff seinen Lesern zumutet. Dass diese Erfahrungen sehr persönlich sind, steht im Vorwort: „Und wieder für dieselbe hinter allen Worten, das Unerlaubte im Herzen, zum Glück.“

Schlau bemerkt er, dass es ein Glück sein kann, den falschen richtigen Menschen gefunden zu haben, statt den richtigen falschen. Jede echte Liebe beginnt bereits mit Liebe, behauptet der Autor. Der „Tropfen Nächstenliebe“ muss hineinfließen, denn in der Liebe wollen wir, dass es dem anderen gut geht. Alles was man liebt scheint ständig in Gefahr zu sein. Kirchhoff verbindet damit keinen moralischen Appell, sondern eher den Genuss des Augenblicks. Seine Erzählungen ergötzen sich an lustvollen Details, die man sehen, riechen und schmecken kann – und wenn der Autor liest, schließt man am besten die Augen und schwebt an die wellenplätschernde Adria oder nach Palestrina. Dort verlieren seine Helden in einer sternenklaren Nacht mit Wetterleuchten durch die unbändige körperliche Verbundenheit fast den Verstand: „Ihr Schoß, ihr Atem und die Worte schienen einer Urglut entrissen“ – die Frau – seine Frau – ist ein tief empfundenes Mysterium, mit ihrer „tausendjährigen Stimme“, die zu ihm spricht, „das Unerlaubte im Herzen“, und die sich dabei schattenhaft auflöst: „Anche per mei sei oscuro – auch für mich bist du undurchsichtig“. Irene ist Übersetzerin für italienische Belletristik. Erfolg und der große Durchbruch sind ihr trotz ihres Talents nicht vergönnt. Verlage zeigen kein Interesse an ihrer Arbeit. Sie verzweifelt an dem Versuch, sich beruflich zu manifestieren. Eine Szene gipfelt darin, dass sie ihre Haare abschneidet und ihre Manuskripte in kleine Schnipsel reißt: „Übersetzungskonfetti“. Diesen wütenden Beweis ihrer Freiheit empfindet ihr Mann als blanken Irrsinn und flüchtet.

„Verlangen und Melancholie“ handelt vom schmerzhaften Prozess des Erkennens: wie man im Leben etwas über sich erfährt, was man gar nicht wissen wollte. Der Selbstmord wirft schwarze Schatten auf die Lebenden, die den wahren Grund für den Freitod nicht wissen können, schließlich gibt es keine schlüssigen Antworten.

So mysteriös wie die Liebe endet manchmal auch das Leben – der Roman wagt etwas offen zu lassen. Aber auch, wenn er uns die Antwort schuldig bleibt, schenkt er uns ein großes Gefühl.

Dieses Buch ist kein Thriller. Bodo Kirchhoff schreibt was ihm unmittelbar einfällt, er möchte erzählen und nicht Handlungsstränge und Plots planen wie in einem Krimi. „Als Schriftsteller muss man sich im richtigen Maß gehen lassen, ohne die Kontrolle zu verlieren“. Das ist auch sein Rat, wenn er Schreibkurse in seinem Haus am Gardasee gibt. Er vermittelt gern die „Freiheit des Fabulierens“, es geht nicht so sehr um die Wahrheit, sondern die Wahrhaftigkeit des Gefühls. Jede Sprache hat eine eigene Musikalität, diese für sich herauszufinden, macht einen guten Autor aus.

Er ist dankbar für die 40 Jahre Erfahrung als Autor, denn im Alter wächst immer mehr Stoff in ihm. Seine Romane sind Amalgame seiner persönlichen Erfahrungen und Beziehungen zu Menschen. Besonders Landschaften, die er in sich aufgenommen hat, kann er gedanklich als Stimmungsbild ausrollen. Auch nach der Lesung ist Bodo Kirchhoff entspannt und offen für kurze Gespräche, signiert die zahlreichen Bücher mit der gewünschten Widmung, bevor er mit seiner Frau zum Dinner im Schloss entschwindet.



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