Aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken gemeinsam mit Jugendlichen und Pfarrer Andreas Hannemann fast 300 Menschen in der Erlöserkirche 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Foto: a.ber
Bad Homburg (a.ber). „Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der vielen Bürger Osteuropas, die ihr Leben verloren. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.“
Es war ein bewegender Moment der Gedenkfeier am 8. Mai nach 80 Jahren Kriegsende, zu der die Erlöserkirchen-Stiftung „Kirche in der Stadt“ eingeladen hatte: Schüler der Humboldtschule und Jugendliche der Kirchengemeinde zündeten Kerzen im Altarraum an, während Pfarrer Andreas Hannemann an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnerte. Ermordete Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung und Homosexuelle, Widerständler in Europa und in Deutschland, Verwundete, Zwangssterilisierte, Vergewaltigte und Zwangsarbeiter und all jene, die „unsägliches Leid erlitten durch Unrecht und Folter, Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod, Leid durch Verlust all dessen, woran man irgend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.“
Die fast 300 in der Erlöserkirche versammelten Bürger, Stadt-, Kreis und Landespolitiker und Vertreter aus jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeinden beteten gemeinsam das „Friedensgebet von Coventry“. Der von der Stiftung „Kirche in der Stadt“ eingeladene Festredner, SPD-Politiker und Bundestagsabgeordneter a.D. Michael Roth, appellierte: „Wir müssen in unserer Gesellschaft Orte schaffen, wo wir uns authentisch begegnen und uns über schmerzhafte Themen austauschen können. Wir müssen Familien ermutigen, über ihre eigene Familiengeschichte nachzudenken und junge Menschen ermutigen, wenn sie in Europa unterwegs sind, sich auch zu informieren, was dort zwischen 1939 und 1945 und danach passiert ist.“
Michael Roth antwortete damit auf Fragen des Stiftungsvorsitzenden Dr. Hauke Öynhausen nach „Räumen des Austauschs und der Vergebung“ und „dem Hochhalten der Erinnerung, wenn die Zeitzeugen sterben“. Dass wir Deutschen auch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch mit angemessenen Formen des Erinnerns und dem Sinn von Erinnerung an Schuld und Leid an sich ringen, machte der langjährige Staatsminister für Europa beim Bundesaußenministerium in seiner Rede deutlich. Gerade deswegen dürften wir politischen Fragen und konsequentem Handeln aktuell nicht ausweichen: „Der Wahrhaftigkeit und den Fakten verpflichtet, sollen wir unseren eigenen Verstand kritisch nutzen“, so Michael Roth.
Bad Homburgs Oberbürgermeister Alexander Hetjes, Schirmherr der Gedenkveranstaltung, sagte: „Krieg und Diktatur haben tiefe Narben in unserer Gesellschaft hinterlassen. 80 Jahre Frieden sind Auftrag und Verpflichtung zugleich – aber wie können wir Frieden schaffen und bewahren? Reicht Dialog aus, wenn ein Aggressor Leid und Gewalt über andere Menschen bringt? Frieden wird auch durch die Entschlossenheit derer errungen, die sich mit klarer Haltung verantwortungsvoll dem Unrecht entgegenstellen.“
Der 1970 geborene Michael Roth skizzierte engagiert die aktuelle Lage: Verdruss über die liberale Demokratie und der Ruf nach schnellen und autoritären Lösungen nähmen in Deutschland zu; die USA als Verbündeter Europas fühle sich derzeit den Menschenrechten und der Freiheit nicht mehr verpflichtet und Russland agiere imperialistisch; der Antisemitismus nehme in Europa und Amerika dramatisch zu, Lügen ersetzten Fakten und das Existenzrecht Israels als sicherer Ort für Juden stehe unter Beschuss. „Unsere eigene Geschichte, der Nazi-Terror, ist heute wieder Teil eines strukturellen Kulturkampfes und wird umgedeutet – es gibt die Sehnsucht nach dem Schlussstrich. Das ist ein gefährlicher Irrweg. Denn Verantwortung und Schuldbekenntnis machen uns stärker, nicht schwächer. Stoppen Sie den Biedermeier und flüchten Sie nicht ins Private oder delegieren öffentliche Angelegenheiten in unserer kompliziert gewordenen Welt einfach an Politiker! Ich bitte Sie darum, sich den schwierigen Situationen immer wieder zu stellen! Mit Nähe, Empathie und Authentizität.“
Sehr persönliche Worte fand Roth über das Desinteresse vieler West-Deutscher am gänzlich anderen Verlauf der Geschichte in Ostdeutschland nach 1945 und vieler Deutscher insgesamt heute an den osteuropäischen und baltischen Staaten. „Knüpfen wir Partnerschaften mit den Demokratien weltweit, schöpfen wir Kraft aus den Begegnungen, lassen wir uns nicht anstecken vom Hass“, ermunterte der evangelische Christ, der seit 2004 Mitglied der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung und Mitglied der Synode der kurhessen-waldeckschen Landeskirche ist.
Der Bachchor der Erlöserkirche unter Kantorin Susanne Rohn lenkte mit Mendelssohn-Bartholdys „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und Bachs „Christe, du Lamm Gottes“ die Gedanken der Anwesenden auf den Frieden trotz allen qualvollen Ringens um das Wie des Gedenkens in der Gegenwart.