Jede Flocke eine kleine Zeit-Spur

Die Brunnenallee im Kurpark bedeckt von einer Schneedecke. Foto: a.ber

Bad Homburg. Dienstagmorgen: Es hat geschneit! Bis in die Niederungen liegt eine Schneedecke – ein Grund, sich ganz früh aufzumachen in den Bad Homburger Kurpark, um ungestraft und ohne schlechtes Gewissen das zu genießen, was die Winterzeit so schön macht. Knirschender Schnee unter den dicken Wanderschuhen, die mich zuletzt vor über einem Jahr über die 32 Kilometer des Routeburn Track auf der Südinsel Neuseelands getragen haben. Seither standen die Wanderschuhe unbenutzt da.

Es ist plötzlich, als könne man dieses Corona-Jahr 2020 überspringen, einen Weg unter die Füße nehmen, vorwärtsgehen, anstatt zurückzublicken auf das Jahr mit den vielen Einschränkungen und Verboten. Auf der Brunnenallee im Kurpark noch keine Fußspuren. Dann ziehen einige Hunde, die der Schnee übermütig macht, ihre Frauchen und Herrchen an mir vorbei. Wie verzaubert von den liegenbleibenden Schneeflocken stehen sie da: Auguste Viktoria auf ihrem Sockel, der Siamesische Tempel mit seinem verschneiten goldenen Dach, die hochgeklappten Stühle des Restaurants mit Schneehauben auf den Tischen am Rosen-Rondell. „Wie es schneit, leise schneit,/jede Flocke pflückt die Zeit/himmelhoch hernieder“, heißt es im Schneeflockenlied des schlesischen Dichters Friedrich Bischoff. Die weiße Decke über allem lässt gerade einmal alles vergessen, was in diesen Tagen unruhig macht und quält.

Auf dem Rückweg liegt plötzlich ein großer Ast da und versperrt den Pfad, den ich gegangen war: heruntergebrochen von einem noch recht jungen Baum, die Abbruchstelle ganz helles Holz. Das Leben, es ist ein Risiko, denke ich. Aber wenn wir es nicht eingehen, dieses Risiko, wenn wir uns einigeln, weil wir jede erdenkliche Gefahr vermeiden wollen, dann werden wir es nicht erleben – das Leben, das auch im Winter so schön sein kann. Von was wollen wir dann erzählen, an was uns erinnern? „Jede Flocke pflückt die Zeit“: An diesem Morgen im Kurpark fallen Millionen Flocken. Jede eine kleine Zeit-Spur meines Lebens.
Text: Astrid Bergner

Verzaubert vom Schnee: Auguste Viktoria auf ihrem Sockel. Foto: a.ber

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