„Hey, Leute, ich habe es ernst gemeint“

Die Berliner Schriftstellerin Anke Stelling (2. v. r.) ist die Hölderlinpreisträgerin 2019. Mit ihr freuen sich (v. l.) Laudator Professor Dr. Heinz Drügh, Jurorin Sandra Kegel, Stadtverordnetenvorsteher Dr. Alfred Etzrodt und Oberbürgermeister Alexander Hetjes.

Von Katrin Staffel

Bad Homburg. Friedrich Hölderlin, der mit Isaac von Sinclair befreundet war, hat sich zweimal jeweils zwei Jahre in Bad Homburg aufgehalten und von 1804 bis 1806 sogar dem Landgrafen als Hofbibliothekar gedient. Die Erinnerung daran hältder 1983 ins Leben gerufeneFriedrich-Hölderlin-Preis wach, der jedes Jahr um den 7. Juni herum, dem Todestag des Dichters im Jahr 1843, verliehen wird. Beim Festakt am Sonntag wurde die in Berlin lebende Schriftstellerin Anke Stelling mit dem Hölderlin-Preis geehrt, der mit20 000 Euro ausgestattet ist.

Der damit verbundene Förderpreis wurde dem Frankfurter Journalisten und Autor Eckhart Nickel zuerkannt. Dieser Preis ist mit 7500 Euro dotiert. Beide Preise mit Urkunde und Plakette wurden von Stadtverordnetenvorsteher Dr. Alfred Etzrodt überreicht, während Oberbürgermeister Alexander Hetjes die Preisträger und die Gäste in der ausverkauften Schlosskirche zu Anfang herzlich willkommen geheißen hatte. Musikalisch umrahmt wurde der Festakt von dem Bläser-Ensemble „Saxitud“.

Preisträgerin Anke Stelling hat bereits mehrere Romane, ein Kinderbuch und Drehbücher veröffentlicht. Im Mittelpunkt stand nun aber die Triologie „Bodentiefe Fenster“ (1915), „Fürsorge“ (1917) und ihr jüngstes Buch „Schäfchen im Trockenen“, für das sie erst kürzlich auch den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Es geht in diesen Büchern um soziale und auch um ganz private und intime Fragen, mit denen sich Frauen auseinandersetzen müssen. „Spielorte“ sind immer wieder Sozialwohnungen und der Prenzlauer Berg in Berlin, wo Anke Stelling mit ihrem Mann und den drei Kindern zu Hause ist.

Ihr Laudator Dr. Heinz Drügh, Professor an der Universität Frankfurt und Mitglied der Jury, stellte fest, dass die Literatur wie kein anderes Medium die „Stufenleitern der Stimmungen darstellen könne“. Er nannte die Autorin eine Sprachartistin, die viele Tonfälle beherrsche und kombiniere: Ernst und Witz, Tratsch und Präzision, Drastik und Sensibilität, und die in ihrer künstlerischen Arbeit nur eines vermeide: Das prätentiös Artifizielle und das Gewollte. Kunst sei bei Anke Stelling vielmehr, eine Sache hin und her zu wenden: In Schriftzeichen, ohne auf eine direkte Erkenntnis oder eine moralische Botschaft hin zu zielen. Und genau das sei das Privileg der Kunst: In Schriftzeichen, Bildern und Tönen zu fühlen, nachzudenken und dadurch die Schattierungen unserer Erkenntnis über das Theoretische oder direkt Moralische hinaus zu erweitern. Heinz Drügh ging auf die drei Bücher der Triologie ein und sinnierte über die Notwendigkeit, dass auch ein Dichter sich um die Frage kümmern müsse, womit er seinen Lebensunterhalt bestreitet, Fragen, die auch die Protagonisten in Stellings Büchern umtreiben. Dabei spielt die Wohnungsfrage eine große Rolle, die ein Maßstab für den sozialen Status der Menschen ist. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe die Wohnungsfrage zur „Existenzfrage“ erklärt. Im Blick auf die Kultur und die Werte, die in den 1968er-Jahren propagiert wurden: Der Wunsch nach Selbstverwirklichung, nach Kreativität, nach einem nicht in Konventionen erstickten Leben seien alles Punkte, die sich in „lustvollem Konsum, in spontanen Reisen oder in Wohnprojekten ausdrücken, die die Kleinfamilie aufsprengen“.

Kein anhaltendes Glücklichsein

Anke Stelling sei es gelungen, diese „Verschränkung“ aufzuzeigen und die Frage zu stellen, wie exklusiv solche Lebensformen seien. Wer kann es sich leisten? Wer ist eingeladen mitzumachen, wer ist allein schon aus materiellen Gründen draußen? Anke Stellings Ton, den sie für ihre Romanfigur Resi gewählt habe, sei nicht als ungefilterte Wut oder Betroffenheit misszuverstehen. Denn Resi führe ihren Namen auf die antike Parthesia zurück, „jene Form des bedingungslosen Wahr-Sprechens, wie wir das aus der Antike kennen; ein Sprechen, das keine Konsequenzen für sich selbst scheut“. Die Autorin praktiziere also ein Wahrsprechen ohne jeglichen Heroismus, ein Wahrsprechen, das durchaus Angst vor den Konsequenzen, vor materiellem Verlust habe. Daraus resultiere „die besondere Gegenwärtigkeit von Anke Stellings jüngstem Roman, der scharfe analytische Blick auf die inneren Dynamiken der nur vermeintlich postmateriellen urbanen Eliten und ihrer Künstlergarnitur“.

Seit dem Erhalt der Preise habe man ihr mehrfach vorgeworfen, dass sie anscheinend gar nicht glücklich sei, bekannte Anke Stelling in ihrer Dankesrede. Warum eigentlich nicht? Die Auszeichnung auch des Hölderlin-Preises bedeute ihr schließlich einiges. Es sei ihr aber nicht gegeben, das durch „anhaltendes Glücklichsein eindeutig zu bestätigten“, dazu sei sie zu skeptisch.

Schließlich sei es ihr Beruf als Schriftstellerin, zu hinterfragen, niemals sicher sein zu können, sondern immer weiter nachforschen zu müssen. Um endlich darauf zu kommen, dass es eine Antwort nicht gibt, sondern nur Worte, Bilder, Szenen, Zeilen, die die Suche begleiten. Es bleibe die Unsicherheit, das Unwohlsein, „sonst endet ja die Suche, wäre es vorbei mit mir als Schriftstellerin“. Und „Sicherheit alleine gibt es nicht, sondern nur im Verbund mit Unfreiheit, das weiß jeder und jede hier im Saal“. Verstanden zu werden gehöre zur Sicherheit, anerkannt zu werden auch, aber mit dem zunehmenden Erfolg wachse auch das Unwohlsein und der Zweifel, was da wohl genau verstanden wurde. Warum ändert sich dadurch dann nichts? „Hey, Leute, ich habe es ernst gemeint, was ich geschrieben habe.“ Sie sei immer hilflos, fassungslos und einsam, unsicher, ob der Vereinnahmung, befremdet vom Verhalten der Menschen, irrend in Aussagen und Beziehungen. Es sei schrecklich mühsam, dass man erst im Tod mit dem Leben und Nachdenkenmüssen am Ende sei.

 

Kunst ist Lebenselixier

 

Sie brauche die Kunst, um das Dasein zu ertragen, brauche die Künstler und Künstlerinnen, die die Welt durch sich hindurchgehen ließen und greifbar machten in ihrer Darstellung. „Ohne Kunst halte ich die Welt nicht aus, weder das Schöne – die Preise und die Liebe – noch das Schreckliche – das Nichtwahrgenommenwerden und den Tod.

Sie brauche aber auch die Worte der anderen, um sich selbst und was sie erlebe fassen zu können. Das sei ihr inzwischen klar geworden. Sie revanchiere sich, indem sie in den großen Chor mit einstimme; begonnen habe, die eigene Stimme zu erheben, einen eigenen Ausdruck zu finden, „auf dass sich das alles zusammentut und ergänzt“. Das Nichtverstandenwerden müsse man dabei ebenso in Kauf nehmen wie die Unsicherheit und die Nacktheit, die mit diesem Stimmeerheben einhergehen. Die Zumutung, die man dabei auch sei. Auch wenn diese durch Zustimmung und Aufmerksamkeit im Augenblick gebannt sei. Und sie zitierte Christa Wolf mit dem Satz: „Der Hochmut, sich nicht täuschen zu wollen, führt auf geradem Weg in die Sprachlosigkeit.“

Anke Stelling beendete ihre Rede mit dem Bekenntnis: „Ich will leben und schreiben, Eltern- und Preisträgerin sein als ständigen Versuch betrachten. Offen für ehrliche Erfahrung, sichtbare Unsicherheit, nicht nachvollziehbare Anmaßung, Zurückweisung, Wiederaufnahme. Erst zu Ende mit dem Tod.“

In der Begründung der Jury heißt es: Anke Stellings Prosa analysiert auf hochsensible Weise die Mittelstandsgesellschaft der Gegenwart. Ihre jüngsten Romane bilden zusammen eine Triologie moderner Gemeinschaft. Mit soziologischer Präzision stellt Anke Stelling dar, wie und mit welchen Konsequenzen heutige Bürgerlichkeit von den antibürgerlichen Werten der 68er infiziert worden ist: Von den Wunsch nach Selbstverwirklichung, lustvollem Konsum und Kreativität. Doch wo bleibt in diesem Zusammenhang die Kunst? Kann sie fröhlich mittun und doch der feinste Seismograf ihrer Zeit bleiben? Das alles seien Fragen, denen Anke Stelling in ihren Romanen nachgehe. „Neugierig, mitunter zornig, vor allem aber mit den eigentlichen Erkenntnisformen des Poetischen: mit Genauigkeit, Feinfühligkeit und Witz.“



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