Auf Spionage-Tour in der Kurstadt

Von Jürgen Streicher

Bad Homburg. Zwei Monate lang wird sich Peter Henning als Spion unters Bad Homburger Volk mischen. Nicht heimlich und unerkannt, namenlos und ohne Gesicht. Ganz im Gegenteil, der Spion, wie er sich in Anlehnung an seinen amerikanischen Kollegen John Cheever sieht, sucht seine Kontaktpersonen ganz offen, stellt sich freundlich vor und fragt an, ob er nicht hier und da ein kleines Fenster in die Vergangenheit öffnen könne. Zwei Monate lang wird Peter Henning als erster „Stadtschreiber“ auf Kurstadt-Pfaden wandeln.

Inspiriert vom Geist des Ortes will er sich treiben lassen, unterwegs an Originalschauplätzen einer Zeit, die Brandmarken hinterlassen hat im kollektiven Gedächtnis einer Stadt. Vielleicht wird er sogar mit ganz wichtigen Personen der Zeitgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts im Gespräch sein in besonderen Momenten. Mit Menschen, die ganz nah dran waren an dem, was ihn so brennend interessiert. Und ihm durch Offenheit helfen, seine gewonnenen Erfahrungen später in literarische Ewigkeiten gießen zu können. Erkenntnisse eines Spions in einer fremden Welt, über deren „nächtlich-dunkle Landschaft“ der Schriftsteller in einem Irrflug kreuzt, um eine neue Wahrheit zu erfinden. Hennings aktuelles Romanprojekt ist untrennbar mit der Geschichte der Stadt verbunden.

Von der Villa Wertheimber im Tannenwald aus wird Henning seine Kreise ziehen. Ein flotter Herr mit zwei Hunden, 61 Jahre alt, mit Bart und Brille, beim öffentlichen Auftritt gerne ganz in Dichterschwarz mit weißen Socken zum leichten Spazierschuh. Und seit 50 Jahren bekennender Entomologe mit einem Faible für besonders schöne Schmetterlingsarten. In einem Obergeschoss der Villa mit Geschichte hat er im perfekten Umfeld eine Zwei-Zimmer-Wohnung von ordentlicher Größe bezogen, um sich dort in aller Ruhe des Parks seiner Profession des Schreibens zu widmen. Beim Abschied wird er vielleicht ein paar aus seinen mitgebrachten Raupen geschlüpfte Schmetterlinge in die Champagnerluft-Freiheit entlassen.

Zum 250. Geburtstag des „Kollegen“ Friedrich Hölderlin hat die Stadt, die sich mit ihrem Poesie- und Literatur-Festival einen Namen in der Literaturwelt gemacht hat, eine neue Hölderlin-Wohnung in der Villa eingerichtet. Nicht mehr nur offen für Forscher und Wissenschaftler im Geiste des Dichters, der so viele Spuren in Homburg hinterlassen hat, jetzt auch ein Zielobjekt für Literaten. Und temporärer Wohnsitz für den neuen Stadtschreiber, der dort auch eine üppig ausgestattete Bibliothek vorfindet. Nur zwei Etagen über die historischen Treppen muss er nach unten, um in tausenden Dokumenten, Büchern, Karten und Akten wühlen zu können. Peter Henning, in diesem Fall ein Mann mit klaren Zielen. Nur einen Tag nach dem Beschluss, die Hölderlin-Wohnung auch an Literaten zu vergeben, lag Hennings Bewerbung auf dem Schreibtisch von Kulturamtsleiterin Bettina Gentzcke. „Wir sind sehr fasziniert, das Thema passt perfekt, es ist ein tolles Projekt“, so Gentzcke bei der Vorstellung des Stadtschreibers im Kaminzimmer der Villa Wertheimber. Er nennt sie inzwischen seine „Komplizin“.

Attentat auf Alfred Herrhausen

Auf seinen Streifzügen durch die Stadt und über die grüne Achse zwischen Tannenwald, Schlosspark und weitläufigem Kurpark wird Henning auch an den Basalt-Stelen am Straßenrand im Seedammweg nahe der Taunus-Therme vorbeikommen. Das schlichte Mahnmal erinnert seit vielen Jahren an den gewaltsamen Tod von Alfred Herrhausen, den „hervorragenden Denker und Wirtschaftslenker von hohem Ansehen in der Stadt“, wie ihn Oberbürgermeister Alexander Hetjes nennt. Lebendige Erinnerungen an einen außergewöhnlichen Menschen, der vielen im Gedächtnis geblieben ist, soll seit Anfang des Jahres auch eine nach ihm benannte Fußgängerbrücke hervorrufen, die City und Bahnhof verbindet. Jener Novembertag 1989, als der Sprengsatz am frühen Morgen vor dem Eingang zur Tiefgarage des Seedammbads explodierte, hat sich vielen Homburgern ins Gedächtnis gebrannt. Herrhausens Tochter Anna, damals elf Jahre alt, saß nur wenige Meter entfernt in einem Klassenraum des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums, der laute Knall war noch weiter entfernt zu hören. Die vom nahen Wohnort im Hardtwald zum Tatort geeilte Ehefrau wurde nicht zum schwer beschädigten gepanzerten Dienstwagen ihres Mannes vorgelassen. Warum nicht? Eine der vielen Fragen, die Peter Henning im Zusammenhang mit dem Herrhausen-Attentat beschäftigen. „Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich versuche, es zu verstehen“, sagt Henning, damals junger Journalist beim HR, 31 Jahre später. Und damit das gleich klar ist: „Ich bin Romanschriftsteller.“ Henning fühlt sich nicht berufen, als Dokumentarist die Geschichte des Attentats neu zu schreiben, aber ein bisschen „literarische Wahrheit“ im Max Frisch’schen Sinne dürfe schon in und zwischen den Zeilen seines neuen Buches zu finden sein. Denn die Wahrheit über den Mord an dem „Mann, der seiner Zeit voraus war“, der, so Peter Henning, „kühne Ideen und irgendwann keine Freunde mehr hatte“, steht nach seiner festen Überzeugung noch auf keinem offiziellen Papier. Dass die RAF für die Täterschaft verantwortlich sei, so die offizielle Lesart von Anfang an, bezweifelt der Schriftsteller und Literatur-Journalist.

„Verordnete Wirklichkeit, so eng auf die Haut geschrieben, dass die Menschen glauben, es sei ihre“, beschäftigt Peter Henning auch in seinen anderen Büchern immer wieder. Am eindrücklichsten vielleicht in seiner Aufarbeitung des Dramas der Geiselnahme von Gladbeck in seinem Roman „Ein deutscher Sommer“ von 2013. Ein rasanter Deutschland-Roman, ein Buch über die alte Bundesrepublik zwischen RAF, Auflösung der DDR und Großbanken-Kapitalismus soll auch das aktuelle Werk mit dem Titel „Das Ende der Benommenheit“ werden, in dem es um Spurensuche, Schuld, zwei Brüder und den Zusammenbruch einer Familie über den damaligen Ereignissen geht.

Wenn er nur ein paar der vielen „Ungereimtheiten“ im Fall Herrhausen auf seiner Spionage-Tour durch Bad Homburg zu einer neuen (literarischen) Bewertung verhilft, wäre das für den ersten Stadtschreiber eine große Sache.

!Am Mittwoch, 1. Juli, stellt sich Peter Henning um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek, Dorotheenstraße 24, dem Publikum vor. Der Eintritt ist frei, aufgrund der aktuellen Corona-Lage ist die Zahl der Plätze begrenzt. Eine Anmeldung ist daher nötig, wahlweise per E-Mail an stadtbibliothek[at]bad-homburg[dot]de oder unter Telefon 06172-921360, jeweils mit Angabe von Name, Anschrift und Telefonnummer.



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