Stuhlflechter Klara und Franz bringen Gäste zum Staunen

Konzentriert wird gezählt, und flink wird das Peddigrohr durchgezogen: Die Ober-Erlenbacher Stuhlflechter Klara (l.) und Franz Schulz (r.) zeigen in der Kulturnacht im Heimatmuseum Ober-Erlenbach ihre Kunst.

Bad Homburg (a.ber). Kultur ist, was der Mensch gestaltet. Und was er gestaltet, hat Auswirkungen auf sein Leben. Es ist uns nicht egal, ob wir in jeder Lebenslage auf dem Boden sitzen oder unserem Wohlbefinden ein Korsett anlegen müssen. Alles schon dagewesen – aber: Wir haben uns weiterentwickelt. Oder nicht? Diesem spannenden Thema konnte nachgehen, wer in der 13. Bad Homburger Kulturnacht in die Peripherie der Innenstadt fuhr. Die Heimatstube Ober-Erlenbach ermöglichte mit ihrem Kultur-Angebot „Stuhlflechterei“ den Besuchern eindrückliche Begegnungen mit den Stuhlflechtern Franz und Klara Schulz, und im Horex-Museum stellten die Leiterin des Städtischen Museums, Dr. Ursula Grzechca-Mohr, und eine kleine charmante Museumsführerin Mode und Textilien vergangener Epochen als „Influencer“ von Verhalten und Denken vor. Wer in der Kulturnacht „am Stuhl kleben blieb“ oder in gedankliche Tiefen über das „ideale Bild“ seiner Selbst eintauchte, konnte begreifen, dass Kultur nicht nur etwas mit Konsumieren zu tun hat, sondern uns alle einbezieht in die kulturelle Weiterentwicklung.

Mit dem Nach-Schreinern von Ikea-Stühlen hätten sich die Ober-Erlenbacher Stuhlflechter Klara und Franz Schulz nie zufriedengegeben – es muss schon kunstvoll sein: Seit mehr als 30 Jahren widmet sich das Ehepaar, 95 und 97 Jahre alt, dem Flechten von Sitzflächen und Stuhllehnen. In der Heimatstube Ober-Erlenbach versetzten sie zahlreich erschienene Neugierige in Erstaunen. Die gebürtige Ober-Erlenbacherin Klara Schulz lernte den aus dem westpreußischen Schulzendorf stammenden Franz Schulz nach dem Krieg kennen, als es den aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten jungen Mann nach Ober-Erlenbach verschlug. Nach der Heirat 1951 führten beide ein „normales Leben“. Doch den langjährigen Mitarbeiter der Taunus Sparkasse packte nach seinem Eintritt in den Ruhestand die Leidenschaft zum Stuhlflechten, und seine Ehefrau steckte er damit an. „Als Bub habe ich meinem Vater, der Waldarbeiter war und seinen Arbeitslohn aufbessern musste, beim Flechten von Stühlen und Körben zugesehen“, so Franz Schulz verschmitzt lächelnd. Ein Stuhlflechter-Meister aus Schwalbach am Taunus erkannte das Talent des Bad Homburger Rentners. Nach einer Kurzausbildung 1990 machte sich Franz Schulz selbstständig. Schaubilder im Ober-Erlenbacher Heimatmuseum führten an diesem Abend die restaurierten Prachtstücke des Ehepaars Schulz vor Augen: antike Stühle und Sofas, sogar Tische mit Sonnengeflecht-Muster und anderen komplizierten Flechtarbeiten wie spanischem oder dänischem Geflecht.

„Soll ich den Stuhl halten?“, bot sich eine Besucherin an. „Ne ne!“, kam von Klara Schulz zurück, die den vor ihr stehenden Holzstuhl behände hin und her kippte. Das Hantieren mit den dünnen, zuvor in Wasser eingeweichten Peddigrohr-Fäden führte die kleine alte Dame vor, versetzte die roten Keilstiftchen an den Seiten der Sitzfläche konzentriert trotz des Rummels um sie herum, und überprüfte immer wieder, ob der jeweilige anzuklebende Peddigrohr-Faden auch an der richtigen Stelle sitze. „Normale Stühle bis zwölf Stunden, komplizierte Muster mehr als 14 Stunden Arbeit“, kommentierte sie auf die Frage, wie man so viel Geduld haben könne beim Flechten. Unzählige Möbel, die ihnen von Restauratoren aus dem Hochtaunuskreis und Privatleuten gebracht wurden oder die sie auf Flohmärkten oder im Internet erstanden haben, sind bis heute durch ihre Hände gegangen. So manches Stück steht bei Schulzens zu Hause zum Verkauf bereit. Bis vor Kurzem haben die Flechtkünstler ihr Wissen noch in Kursen weitergegeben. In der Heimatstube lagen Fachbücher übers Stuhlflechten aus, der Vorsitzende des Vereins „Heimatstube Ober-Erlenbach“, Torsten Martin, informierte in einem unterhaltsamen Vortrag die Gäste über die Entwicklung des Kulturguts Stuhl durch die Jahrtausende und interviewte Franz Schulz über Material und Werkzeuge und den berühmten Thonet-Kaffeehausstuhl mit dem „Wiener Geflecht“. Ein Ratschlag des Stuhlflechters blieb im Gedächtnis: „Lasst euch bloß nicht auf einen geflochtenen Stuhlsitz fallen!“

Während Stuhlflecherin Klara Schulz an diesem Abend Obacht gab, dass ihr kein Faden riss, nahmen im Städtischen Museum hinter dem Bad Homburger Bahnhof auch andere mit Vorsicht fadengesponnene Kulturgüter in die Hand: Museumsleiterin Ursula Grzechca-Mohr hatte in einem vom Rotaryclub Bad Homburg-Kurpark für Integrationsschüler der Homburger Schulen angebotenen Kurs „Textilien, Mode und Tracht“ mit sieben Schülerinnen der 5. bis 7. Klassen den Kleider-Bestand im Schaudepot erforscht. Sie leitete die Mädchen an, Stoffe aus verschiedenen Jahrhunderten zu betrachten und den Umgang mit musealen Stücken zu erproben. In der Kulturnacht nun stellten die Schülerinnen Eltern und Besuchern im Horex-Museum Trachten und Mode-Kleider vor, erklärten Details zu Stoffen des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Schnittformen und Accessoires. Dazu gab es Harfenmusik der Epochen. Am Ende übernahm eine ganz junge, beeindruckend kundige Museumsführerin diese Rolle für die Kulturnacht-Besucher: Winzige Stoff-Korsetts hob sie aus Schachteln – diese hätten schon zehn Monate alte Mädchen der vermögenden Gesellschaftsschichten im 18. Jahrhundert tragen müssen. „Die mit Fischgräten oder Stöckchen stabilisierten Stoff-Schnürteile waren eine Quälerei und extrem gesundheitsschädlich für die Kleinkinder“, so Museumsleiterin Grzechca-Mohr. Über dem Betrachten der Raffinessen von Waldenser-Tracht, Schwälmer Tracht, modischen Hochzeitskleidern um 1900 und einer alten japanischen Tracht aus dem Bestand des Museums kamen die Anwesenden – wie schon die Schülerinnen vorher – ins Gespräch über Fragen des Einflusses von Mode und Körper-Ideal auf Frauen: Wieso gibt jemand anderes vor, was schön ist für mich? Was macht das mit uns, wenn wir uns an Ideal-Bildern orientieren? Welchen Einfluss nahm und nimmt die Mode auf Musik, Möbel und Verhalten?

„Es ist spannend zu sehen, wie sich Mädchen und junge Frauen mit dem Reflektieren über Modegeschichte entspannen und Abstand zu den von außen sich aufdrängenden Ansprüchen an sie und ihre Erscheinung gewinnen können“, erzählte die Museumsleiterin. Dass Menschheitsgeschichte und eigene Lebenswelt anhand der Entwicklung von Kulturtechniken sinnfällig nachvollziehbar sind – und das ganz praktisch an allen von Menschen erdachten Dingen und Objekten – , war eine gewinnbringende Erkenntnis der Kulturnacht.

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