Tradition und Aufbruch – das Neujahrskonzert in Glashütten

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Glashütten (kw) – Mit seinem diesjährigen Neujahrskonzert setzte der Kulturkreis Glashütten nicht nur diese beliebte Reihe fort, sondern pflegte auch weiter die Tradition, jungen, aufstrebenden Talenten eine Bühne zu bieten. Diesmal war ein junges Streichquartett, das „Alinea Quartett“, gemeinsam mit dem argentinischen Pianisten José Azar zu Gast in der Taunusgemeinde. Das Quartett fand sich 2019 in München zusammen, zwei von ihnen sind aber aus Hessen und spielten im hiesigen Landesjugendorchester, bevor sie ihr Studium begannen. Erste Preise folgten, und Kammermusik-Studien u. a. bei Eckart Runge (Artemis-Quartett) und Oliver Wille (Kuss-Quartett) brachten sie auf die Spur, als Quartett zusammenzubleiben und gemeinsam eine Karriere zu beginnen.

Tradition mag es auch sein, ein Konzert mit dem „Erfinder des Streichquartetts“, also mit Joseph Haydn, zu beginnen. Sein Zyklus op. 20, die so genannten „Sonnenquartette“, ist – anders als der nicht von Haydn stammende Beiname vermuten lässt – eine Sammlung ausgesprochen ernster und teilweise düsterer Stücke, die im gleichen Zeitraum wie Passions- und Trauermusiken (z. B. das Stabat Mater) entstanden sind. Auf das Quartett Nr. 5 in f-Moll von 1772 treffen die Bezeichnungen ernst und düster ganz sicher zu. Die expressive Moll-Kantilene im ersten Satz „Allegro moderato“ gibt gleich die Richtung vor, die in der Durchführung und im folgenden „Menuett“ durch Dur-Wendungen zwar eine zusätzliche Färbung erhält, aber weiterhin ebenso wie das anschließende im Siciliana-Rhythmus schwingende „Adagio“ ernst bleibt. Im „Finale“ begegnet uns ein aus Händels „Messias“ bekanntes Thema („and with his stripes“), das Haydn als Doppelfuge verarbeitet und so den strengen Gestus bis zum Schluss beibehält, auch wenn es einen die Zuhörenden aufschreckenden „Paukenschlag-Moment“ gibt und der Schlussakkord in Dur steht.

Die jungen Leute gaben mit diesem Haydn eine überzeugende Visitenkarte ab und machten dem zahlreich erschienenen Publikum (es mussten mehrmals zusätzliche Stühle aufgestellt werden) Appetit auf mehr.

Dem Programm war zu entnehmen, dass Alinea „einen besonderen Fokus auf Musikvermittlung“ legt und dass „in Gesprächskonzerten die Musiker über die Hintergründe der Werke und ihre persönlichen Beziehungen dazu“ sprechen. Dieser Ankündigung wurde die Anmoderation durch den Bratschisten Raphael Schönball zum folgenden Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118 von Dimitri Schostakowitsch voll und ganz gerecht. Er erzählte, dass der Komponist das Werk 1964 nach einem Urlaub in Armenien geschaffen habe, wo er sich mit dem Kollegen Mieczysław Weinberg getroffen hatte. Dieser hatte bereits neun Quartette geschrieben, und Schostakowitsch fühlte sich angespornt, ihn mit diesem 10. Streichquartett zu überholen. Am Ende blieb allerdings Weinberg mit 17:15 Sieger. Die Primaria Fanny Schell stellte solo das erste Thema des schlicht und klassisch wirkenden „Andante“ vor, das stark mit dem 2. Satz „Allegretto furioso“ kontrastiert, der schroffe Dissonanzen und hämmernde Rhythmen bereithält. Die Musiker schonten sich und ihre Instrumente bei diesem „Höllenritt“ nicht, nach dem die wunderbare Passacaglia des folgenden „Adagio“-Satzes mit ihren strömenden Melodien wie eine Erlösung wirkte. Fließend der Übergang durch 2. Violine (Mario Sögtrop) und Violoncello (David Fuchs) zum abschließenden, streckenweise tänzerischen „Allegretto“.

Danach war eine Pause sehr willkommen, in der nach längerer Pandemiepause endlich auch wieder Getränke angeboten wurden und viele Begegnungen auch mit trotz winterlichem Wetter von außerhalb angereisten Zuhörenden stattfanden – es war wie früher!

Klar, dieses junge Streichquartett steht noch ganz am Anfang seines Weges, und der „Kammermusik-Markt“ ist in diesem Segment ganz besonders hart umkämpft. Aber neben hervorragendem technischen Können zeichnen sich die vier durch große Leidenschaft, Frische und zupackenden Willen aus, gepaart mit gründlicher Kenntnis der gespielten Werke, und es ist ihnen und uns sehr zu wünschen, dass sie weiterkommen. 2023 reisen sie unter anderem nach Großbritannien und werden erstmals (!) in München auftreten, und danach ist geplant, nach Graz zu gehen und dort bei Mitgliedern des Jerusalem-Quartetts, einem der momentan führenden Streichquartette, zu studieren.

Erst zweimal zuvor ist Alinea gemeinsam mit José Azar aufgetreten. Der Pianist wurde in Tucumán, Argentinien, geboren und studierte an der Nationaluniversität der Künste „UNA“ in Buenos Aires, bevor er nach dem dortigen Bachelor 2017 seine Weiterbildung in Deutschland fortsetzte. Er kann auf mehrere erfolgreiche Wettbewerbe zurückblicken und tritt regelmäßig auf den wichtigen Bühnen Argentiniens als Solist, Kammermusikpartner und als Solist mit Orchester auf. Wie Fanny Schell ist auch er zurzeit im Masterstudium an der Musikhochschule Karlsruhe. In Glashütten hatte er nun den äußerst anspruchsvollen Klavierpart in Brahms‘ Klavierquintett op. 34 zu übernehmen, was er mit Bravour meisterte. Brahms hat drei Fassungen seines Quintetts geschrieben:

Zuerst ein Streichquintett in der Schubert’schen Besetzung mit doppeltem Cello, dann eine Version für zwei Klaviere und schließlich nach intensiver Beratung mit seinen Freunden Joseph Joachim und Clara Schumann das Klavierquintett. Letztere meinte: „Mir ist nach dem Werk, als habe ich eine tragische Geschichte gelesen.“ Einhellig wurde das viersätzige Stück von Anfang an als Meisterwerk angesehen, das höchste Ansprüche an alle fünf Musiker stellt. Mit seiner sinfonischen Dimension – allein der Kopfsatz „Allegro non troppo“ dauert fast 15 Minuten – , dem dramatischen Ausdruck und der kühnen Harmonik im Finale meint man, ein Klavierkonzert zu hören. Alinea und José Azar verwandelten das Bürgerhaus in einen großen Konzertsaal, und das Publikum war begeistert.

Dem Kulturkreis ist es wieder gelungen, ein vielversprechendes Ensemble für einen spannenden Kammermusikabend einzuladen. Allen fünfen viel Erfolg und vielleicht ein baldiges Wiedersehen!



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