Ein Kelkheimer Höhepunkt: Gegen das Vergessen!!!!

Der Schreiber dieser Zeilen trug im Jungvolk 1944 eine grünschwarze Schnur an der linken Schulter (Hauptjungzugführer als Dienststellung), war Oberjungenschaftsführer (Stern und Winkel als Dienstrang), wurde im selben Jahr degradiert, weil er als aufmüpfiger Jungspund nicht mit dem System klarkam, statt Heil Hitler – Auf Wiedersehen sagte, fast im Jugend-KZ in Moringen landete – und erst einmal tief durchatmen, schlucken musste, als er das Buch „Kelkheim in der Zeit des Nationalsozialismus“ in die Hand nahm und darin blätterte.

Da kochten in der Erinnerung Ereignisse und Personen auf, die sich so sehr denen dem Kelkheim zwischen 1939 und 1945 ähnelten. Und zum Teil doch sehr verschieden waren. Gegen das Vergessen – ja, wie gut, dass man doch noch einmal an diese Zeiten erinnert wird und hofft, dass sie nie wieder kommen mögen, auch wenn es inzwischen Pessimisten gibt, die daran glauben.

Fünf Kelkheimer, unter der redaktionellen Leitung von Dr. Beate Matuschek, trugen die Unterlagen für dieses Buch zusammen: Rüdiger Kraatz, Monika Öchsner, Dr. John Povan, Heidi Stögbauer und Pfarrer a.D. Gerd Petzke und auch Dietrich Kleipa, der recherchierte und korrigierte, wenn es um geschichtliche Fakten ging. Ihnen sei gedankt, dass sie sich des Themas annahmen, forschten in der Vergangenheit einer Stadt, in der Menschen unter den Auswüchsen des Nationalsozialismus litten, in einer Stadt – oder Dörfern damals – die nicht unbedingt exemplarisch für alle Orte in der nationalsozialistischen Vergangenheit dastehen müssen. So auch viele Unterschiede zwischen dem kleinen Dorf bei Göttingen und den Dörfern am Taunus. Keine Unterschiede im Endziel, aber in den Wegen, die dahin führen sollten.

Und wenn Bürgermeister Albrecht Kündiger bei der Vorstellung des Buches davon sprach, dass es höchste Zeit sei, über diese Zeit zu sprechen, weil die Zeitzeugen immer weniger werden. Weil, wie auch Rüdiger Kraatz unterstrich, im Gedächtnis manches verwischen könnte, man sich heute auf dieser Basis mit der Zeit von 1939 bis 1945 auseinandersetzen kann. Gerade Jüngere sollten, so Kündiger, das Buch in die Hand nehmen, es sei ein Höhepunkt für Kelkheim. Die Arbeiten dafür gehen auf einen Stadtverordneten-Beschluss aus dem Jahr 2013 zurück.

Es gab oder gibt Städte oder Gemeinden, die weitaus mehr unter der Diktatur der Braunen litten als Kelkheim. Und doch erschüttern Einzelschicksale, die unendlich lange Liste der Gefallenen am Schluss des Buches, die Dietrich Kleipa zusammentrug (Der Verfasser: Fünf meiner Vettern sind gefallen), dann wieder die hilfreichen Hände, die es damals gab. Oder die Risse, die sich in Familien auftuen konnten, weil der eine die braune Uniform trug, der andere noch das Parteibuch der Sozialdemokraten in der Tasche hatte. Einen Juden verstecken? Das kam einem Todesurteil gleich. Ostarbeiter am eigenen Mittagstisch verköstigen? Ein Unding. Und doch geschah es, Monika Öchsner, die die Unterlagen der Fischbacher Schule durcharbeitete, fand die Belege dafür. Rüdiger Kraatz befragte Zeitzeugen, stieß auf das Schweigen zwischen den Generationen („Mein Opa war kein Nazi“), auch darauf, was Wahrheit und objektiv ist, was sich in älteren Hirnen schon verwischen kann. Zu Hilfe kamen nicht nur Urkunden oder alte Bilder, im Speicher der Stadt fanden sich Sammelbüchsen, eine davon mit dem Hakenkreuz, vielleicht wurde damit für das Winterhilfswerk gesammelt, die andere -– nach dem Krieg umfunktioniert von einer sparsamen Verwaltung, die auch eine Vergangenheit hat. Heute können wir mit dem Thema umgehen, auch mit der Tatsache, dass wir die Hakenkreuz-Sammelbüchse als warnende Beispiel, nicht als Aufforderung, drucken.

Das schreckliche Schicksal der Kriegsgefangenen, der Ostarbeiter, der jüdischen Zwangsarbeiter, die aus Frankfurt kamen und in Kelkheim zum Straßenbau eingesetzt waren, wird gegenwärtig. Dann wieder der Lichtblick Gimbacher Hof, wo gerade diese Menschen gut behandelt wurden. Es ist auch die Rede von Ehen zwischen Franzosen und deutschen Frauen, vor allem aber auch nach den Recherchen von Heidi Stögbauer über Juden in Kelkheim, darunter Anna Schmidt, die mit einem Deutschen verheiratet war und doch in Auschwitz endete. Und wenn Dr. Gerd Petzke das Problem aufgriff, das Christen Christen verfolgten, beleuchtet das auch nachhaltig das Verhältnis der Machthaber zu den Kirchen, die das Kloster in Kelkheim schlossen, und Pfarrer bei ihrer Arbeit behinderten, die aber wohl nicht alle den Widerstand aufbrachten, den man – aus heutiger Sicht – erwarten könnte. Keine Reaktionen zum Schicksal der Juden. Doch wie so oft: Geschichte lässt sich oft nur aus ihrer eigenen Zeit verstehen. Der Amerikaner Dr. John Povan skizziert die letzten Tage des Kriegs für Kelkheim aus der Sicht der einrückenden Amis, die nicht einen Ort Kelkheim besetzten, sondern die Landkartenmarkierung „M 5271“. Er erinnert an Bombenabwürfe, an abgeschossene amerikanische Flugzeuge und an Himmlers Eisenbahnzug, der im Eppsteiner Tunnel geparkt war und möglicherweise Ziel der amerikanischen Flieger war.

„Gegen das Vergessen“, eine Spurensuche. Das Buch ist im Societäts-Verlag (ISBN 978-3-95542-271-4) erschienen und kostet 19,80 Euro.

Wir berichten zwar oft über Kelkheimer Bücher, verzichten aber im Allgemeinen auf ein Urteil, hier jedoch unsere Meinung: Ein Buch, das man im Bücherschrank haben sollte. Nicht als ungelesene Dekoration sondern als Mahnung. Auch um zu vermeiden, dass sich Ähnliches wiederholt. Die Bilder: Oben die Fischbacher beim Aufmarsch zum 1. Mai am Taunusblick. Darunter von links: Bürgermeister Albrecht Kündiger, Rüdiger Kraatz, dahinter Dietrich Kleipa. Heidi Stögbauer, Dr. Gerd Petzke, Monika Öchsner, Dr. John Povan, Dr. Beate Matuschek und Kulturdezernent Hans Walter Müssig, der mahnte: „Ich habe mit meinem Vater nie über die Nazizeit gesprochen. Um so mehr Bedeutung hat das Buch für die heutige Jugend. Denn solche Geschichte darf sich nie wiederholen“.

Kultur/Soziales

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