Gegen das Vergessen – was Renate Aris Schülern und Schülerinnen in Fischbach zu sagen hat

Renate Aris ist eine jüdische Holocaust-Überlebende. Heute berichtet sie auch Dank des Engagements von Louis Pawellek vor Schulklassen als Zeitzeugin von den Gräueln der Nazis. Zuletzt war sie an der Gesamtschule Fischbach in Kelkheim zu Gast.Foto: Judith Ulbricht

Fischbach (ju) – In einer Welt, in der Nachrichten oft nur noch Sekunden dauern und die Stimmen der Vergangenheit zu verblassen drohen, sind Begegnungen mit Zeitzeugen ein unschätzbares Geschenk. Sie tragen die Erlebnisse, den Schmerz, die Hoffnung und die Mahnung vergangener Generationen in sich – und geben sie weiter, damit wir verstehen, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen. Gerade heute, in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Wahrheit und Meinung unscharf geworden sind, eröffnen solche Gespräche einen Raum für echtes Zuhören, für das Begreifen der Geschichte nicht aus Büchern, sondern aus gelebtem Leben. Wenn ein Mensch seine Geschichte erzählt, begegnen wir nicht nur den Fakten – wir begegnen Herzschlägen, Mut und der eindringlichen Aufforderung, nicht zu vergessen.

Für das Erinnern

Dass solche Begegnungen auch an der Gesamtschule Fischbach stattfinden, ist maßgeblich dem Engagement von Louis Pawellek zu verdanken. Pawellek, selbst geprägt von frühzeitigen Begegnungen mit Zeitzeugen, setzt sich seit Jahren dafür ein, Erinnerungsarbeit in Schulen sichtbar zu machen und neue Wege des Gedenkens zu gestalten. In seinen Dokumentationen und Büchern hat er die Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden für ein junges Publikum erfahrbar gemacht. Durch persönliche Begegnungen, Interviews und multimediale Projekte gibt er gemeinsam mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Vergangenheit ein Gesicht – damit nachwachsende Generationen verstehen, warum Erinnern heute wichtiger ist denn je.

Den Anstoß gab für den 27-Jährigen eine Jüdin, die in dem Dorf lebte, in dem Heimjunge Pawellek zur Schule ging. Tagtäglich kam er an ihrem Haus vorbei, bis die alte Dame ihn eines Tages hineinbat und ihm ihre Geschichte und den Horror und die Entmenschlichung von Auschwitz und Bergen Belsen nahe brachte. Der Stachel war gesetzt und Pawellek machte es sich zur Aufgabe, gegen das Vergessen anzukämpfen, „denn Zeitzeugen werden nicht mehr ewig da sein. Doch sie sind die Stimmen der deutschen Vergangenheit und es ist wichtig, dass wir uns dieser Vergangenheit und dem Thema stellen. Nicht als Schuldige, sondern als die, die daraus lernen und die dafür sorgen, dass es das ‚Nie wieder‘ gibt“, betont Pawellek in seinen Eingangsworten gegenüber den anwesenden Schülern der 9. und 10. Jahrgänge.

Die Zeitzeugin erzählt

Zwischen all der Schwere des Themas kommt es ganz am Anfang zu einem Moment des Schmunzelns und der allgemeinen Heiterkeit. Denn die 90-jährige Renate Aris wird per FaceTime mit den Jugendlichen kommunizieren und stellt sich den Tücken der Technik. Sitzen auf der einen Seite junge Menschen für die WhatsApp, FaceTime und Co. Normalität sind, sorgt auf der anderen Seite Aris für die Lacher, weil es erst nicht so geht wie sie will und dann braucht es nur ein paar Zahlen für den Code und sie erscheint auf der Leinwand – und bekommt Applaus.

Die rüstige Dame mit den wachen Augen ist sofort in ihrem Element. Pawellek moderiert gekonnt das Gespräch und lässt Aris erzählen. Am 25. August 1935 in Dresden geboren, war Renate Aris im Jargon der Nazis ein „Mischling ersten Grades“ – der Vater Jude, die Mutter Christin. Die ersten Jahre als Kleinkind gingen noch schadlos an ihr vorbei, wuchs sie doch in liebevollen Verhältnissen auf. Doch spätestens als der Judenstern Teil ihrer Identität wurde, merkte auch die kleine Renate, dass alles anders ist. Spätestens, als ihr der Zweitname Sara zugeteilt wurde, war klar, dass das Regime vor niemandem mit jüdischen Wurzeln Halt machte.

Im Nationalsozialismus bekamen jüdische Mischlinge einen zweiten Vornamen zugewiesen, um sie leichter als jüdisch kennzeichnen zu können. Frauen mussten den Vornamen „Sara“ tragen, Männer den Vornamen „Israel“. Diese Namensverordnung stammt aus einem Erlass vom 17. August 1938, der vorschrieb, dass alle jüdischen Personen neben ihrem eigentlichen Namen offiziell diesen zusätzlichen „Jüdischnamen“ tragen mussten. Die Bezeichnung „jüdischer Mischling“ wurde für Menschen verwendet, die laut den Nürnberger Gesetzen von 1935 teilweise jüdische Abstammung hatten, aber nicht als Volljuden galten. Der Namenszusatz „Sara“ beziehungsweise „Israel“ diente dazu, jüdische Menschen auch im Alltag zu stigmatisieren und zu diskriminieren. Es war eine offizielle Kennzeichnung der „Nicht-Arier“ und wurde von Behörden, Arbeitgebern und anderen Stellen zur Ausgrenzung genutzt.

Diese Praxis war Teil der rassistischen NS-Politik, um jüdische Menschen öffentlich kenntlich zu machen, soziale Kontakte einzuschränken und letztlich die systematische Verfolgung und Entrechtung voranzutreiben.

Die Juden werden zu Freiwild

Erste bewusste Erinnerungen hat Aris an die „Kristallnacht“. Ihre Frage an die Schüler, ob sie wüssten, was in dieser Nacht passierte, bleibt leider unbeantwortet. Und veranlassen die Zeitzeugin, einen eindringlichen Appell an die Lehrer zu richten, von denen sie weiß, dass der Lehrplan viel zu wenig Zeit für dieses Thema lässt, „aber ich bitte Sie, investieren Sie ihre Zeit gut und intensiv. Es ist wichtig, wichtig, wichtig“. Aris ist sich bewusst, dass sie in die Zeit der Pogrome hineingeboren wurde und erklärt den Schülern, was passierte. „In dieser Nacht wurden die Juden Freiwild. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater damals ins Wohnzimmer kam und sagte, dass die Synagoge brennt. Die Synagoge, die mit eine der Schönsten in Deutschland war und in dieser Nacht in Dresden in Schutt und Asche gelegt wurde.“ Es war eine Mord- und Vernichtungsnacht und kein Jude konnte ahnen, was noch kommt. Ausgrenzung, das Tragen des Judensterns, Zwangsarbeit, Lebensmittelkarten, die zum Leben nicht reichten, Verbote, die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft – Renate Aris erlebte alles hautnah mit. Plötzlich durfte sie nicht mehr in Freibad oder Kino, durfte bestimmte Straßen nicht mehr nutzen – und für sie ganz schlimm: Sie durfte nicht zur Schule. Sie erinnert sich an die Geschäfte mit den Schildern „Hier werden Juden nicht bedient“ und nimmt deren Besitzer in Schutz. „Ich glaube, bei vielen war das kein böser Wille, sondern Angst. Die pure Angst selbst dran zu sein, wenn man sich nicht dran hält.“

Der Bombenterror rettet ihr Leben

Die Familie lebt zu dieser Zeit bei der Großmutter mütterlicherseits, der Vater, ehemals Kaufmann, wird zur Zwangsarbeit gezwungen. Der Mutter wird von den Behörden immer wieder nahegelegt, sie solle doch ihre Familie verlassen, „dann sei sie geschützt“. Doch die Mutter bleibt. Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Verfolgung der Juden nimmt ungeahnte Ausmaße an. Spätestens mit der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wird klar, dass die europäischen Juden ausgerottet werden sollen-. ihre Deportation in den Osten ist Teil eines perfiden, unmenschlichen Plans. Die Familie Aris gehört zu den letzten Dresdner Juden, die am 16. Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert werden sollen. Die Mutter bleibt auch jetzt und sagt: „Ich lasse meine Kinder nicht in den Tod gehen.“ Die Dresdner Bombennächte retten der Familie buchstäblich das Leben, denn der Bahnhof, von dem die Züge starten, wird komplett zerstört. Dresden brennt, denn die Stadt wurde mit Phosphorbomben überdeckt. „Der Himmel war blutrot und wir sind durch die brennende Stadt geflüchtet. Meine Mutter wollte in Richtung Prag und wir liefen eineinhalb Tage wortwörtlich über Leichen. Überall lagen abgerissene Gliedmaßen, brennende Menschen sprangen in die brennende Elbe, um ihr Leben zu retten und kamen elendig um“, erinnert sich Renate Aris an die Schrecken der Dresdner Bombennächte. Die Familie (ohne Vater) findet in einer Villa am Elbhang hoch über dem Blauen Wunder Unterschlupf. Dort lebten Bekannte der Eltern, und obwohl die Villa schon überfüllt mit Flüchtenden und Ausgebombten war, war in einem kleinen Ankleidezimmer mit vier Liegen noch Platz für die Familie. Die Tür zu diesem Versteck wurde mit Brettern vernagelt, und auf diesen Brettern lagen Äpfel, die das Versteck vor Kontrollen und Entdeckung schützten. So überlebte Renate Aris mit ihrer Mutter und ihrem Bruder bis zum Kriegsende in diesem Versteck. Und auch der Vater, der mit französischen Zwangsarbeitern arbeitete und die Sprache beherrschte, überlebte. „In der Firma, in der er seine Arbeit ableisten musste, ahnte man eventuell, dass er keine Franzose war, aber niemand sagte etwas. Das hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.“

Das Leben nach dem Krieg

Der Krieg ist vorbei, die kleine Familie hat überlebt, viele ihrer Verwandten nicht. Doch für Renate Aris hält das Leben zum Glück nur noch Positives bereit. Am 15. Oktober 1945 darf sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schule besuchen. Sie beendet die 10. Klasse, macht eine Ausbildung zur Damenschneiderin. Sie beginnt eine Lehre als Gewandmeisterin und schließt 1958 die Meisterakademie des Handwerks ab. Sie war viele Jahre in Theaterkostümabteilungen tätig (Theater Junge Generation, Elbe-Elster-Theater) und von 1969 bis zur Wende 1990 Leiterin der Kostümabteilungen der DDR-Fernsehstudios in Dresden, Leipzig und Chemnitz.

Von 1988 bis 2003 engagierte sie sich als stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz und war viele Jahre Mitglied im Präsidium des Landesverbands Sachsen der Jüdischen Gemeinden. 1999 initiierte sie die Wiedergründung des Jüdischen Frauenvereins in Chemnitz, nachdem dieser 1939 zwangsweise aufgelöst worden war.

Renate Aris ist auch heute noch eine gefragte Zeitzeugin, die bisher vor mehr als 600 Schulklassen berichtet hat und sich bis heute aktiv für Erinnerungsarbeit und gegen das Vergessen einsetzt. Sie lebt seit vielen Jahren in Chemnitz und wurde für ihr langjähriges Engagement mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Sächsischen Verdienstorden und dem Ehrenpreis des Chemnitzer Friedenspreises.

Erinnern und mahnen

Sie bleibt eine der wichtigen Stimmen gegen das Vergessen und den Hass. Bis heute spricht sie vor Schülern und Jugendlichen, weil sie ihren ermordeten Verwandten und den Millionen Opfern des Holocaust verpflichtet ist. „Ich erzähle meine Geschichte, damit ihr nie vergesst, was geschehen ist und damit ihr mutig für Menschlichkeit einsteht“, sagt sie oft.

Zum 90. Geburtstag hat sie beklagt, dass immer mehr Unkenntnis über die Verfolgung wächst und „eine braune Suppe“ wieder in die Köpfe kommt. Doch ihr Appell bleibt klar und voller Hoffnung: Zivilcourage ist dringend nötig, und der Mut, für das Gute einzutreten, kann die Welt verändern.

Die Geschichte von Renate Aris ist mehr als ein Zeitzeugnis – sie ist eine Mahnung, eine Brücke von der Vergangenheit in unsere Gegenwart und Zukunft. So lange Menschen wie sie berichten, lebt die Erinnerung weiter. Und mit ihr die Verantwortung, Hass und Ausgrenzung nie wieder Raum zu geben.



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