Der kurze Besuch eines (jungen) Bibers am Liederbach

Eigentlich wollte Jette (13) nur mit ihrer Hündin Juna eine entspannte Gassirunde am Liederbach drehen. Was sie dann entdeckte, sorgte für beträchtlichen Wirbel und für leider falsche Reaktionen mancher Kelkheimer. Aber der Reihe nach. „Ich wollte Juna an einer etwas tieferen Stelle im Liederbach ins Wasser schicken, aber irgendetwas gefiel ihr nicht“, erzählt die Schülerin. Und dann entdeckt sie den Grund: Unter einer unterspülten Baumwurzel sitzt ein Biber. Sie traut sich etwas näher ran und macht ein Foto. „Das habe ich dann meiner Mutter geschickt, weil ich mir nicht sicher wahr, ob es wirklich ein Biber ist“, so das Mädchen. Diese glaubt im ersten Moment an einen Aprilscherz ihrer Tochter und überzeugt sich selbst. Da sitzt wirklich ein Biber am Liederbach.

Ein Post in der „Alles rund um Kelkheim – Facebookgruppe“ sorgt für helle Aufregung. Viele glauben ebenfalls an einen Aprilscherz, andere freuen sich, dass das doch in dieser Gegend eher seltene Tier den Weg in den Liederbach gefunden hat, einige warnen, dass man doch lieber gar nicht darauf hinweist und sollen damit Recht behalten. Auch Michael Orf, Biologe bei der Naturschutzbehörde und dort für die etwas „exotischeren“ heimischen Wildtiere zuständig, wird auf den seltenen Besucher aufmerksam. „Wir haben uns mit ihm an der kleinen Holzbrücke verabredet und ich habe ihm dann die Stelle gezeigt“, berichtet Jette. Der Biber ist noch da, und Michael Orf kann seine Begeisterung nicht verstecken. „So nah bin ich an so ein Tier auch noch nicht rangekommen“, freut er sich sichtlich und richtet seine Kamera immer wieder auf das Tier.

Er vermutet, dass es sich um ein Jungtier auf der Suche nach einem eigenen Revier handelt. Seit einiger Zeit gibt es Sichtungen des Nagetiers am Main, allerdings wurden bisher nur seine Spuren an Bäumen gefunden, Tiere hat man bis jetzt nicht entdeckt. Des nachts wandern sie in den Flüssen und Bächen, die in den Main münden, aufwärts, um neuen Lebensraum zu erobern.

Das scheue Wildtier war in weiten Teilen Europas wegen seines Felles ausgerottet. Durch konsequenten Schutz und Auswilderung im 20. Jahrhundert haben sich die Bestände des Bibers in den letzten Jahrzehnten wieder erholt. „In den 1980er Jahren wurden im Spessart 18 Biber ausgesetzt, die dafür gesorgt haben, dass die Population wieder wächst“, weiß Michael Orf. Inzwischen gibt es wohl um die tausend Nachkommen. Die Tiere breiten sich mittlerweile in Hessen aus. Spuren wurden an Schwalm, Fulda, im Odenwaldkreis und im Lahnsystem gefunden.

Ob der Biber vom Liederbach dazu gehört, kann man nicht sagen, dass er hier aber nicht gut aufgehoben ist, stellte sich wenig später heraus.

Denn dann kam er: der Mensch. Michael Orf erlebte das ignorante Verhalten einiger Mitmenschen. „Nachmittags und Abends standen fast durchgehend Gruppen von Leuten mit Kindern und Hunden am Ufer, teilweise wurden Stöcke geworfen und es wurde versucht, den Biber zu füttern“, berichtet der Experte kopfschüttelnd.

Das Tier war am Ende so verschreckt, dass es nur noch seinen Kopf in der Böschung versteckte. Für den sonst so scheuen Nager muss das der absolute Stress gewesen sein. Deswegen ist sich der Biologe sicher: „Das einzig Gute ist, dass er definitiv mitbekommen hat, dass hier kein Platz für einen Biber ist. Und das abgesehen davon, dass bei dem geringen Wasserstand des Liederbachs im Sommer sich ohnehin kein Biber dort halten kann.“ Und er sollte Recht behalten. Als Jette am nächsten Morgen nach dem Tier sah, war es verschwunden.

„Er findet hoffentlich ein ruhiges Plätzchen an dem er sich richtig wohlfühlen kann“, wünscht sich das Mädchen.

Info: Biber sind die zweitgrößten lebenden Nagetiere auf der Welt. Sein Lebensraum sind fließende und stehende Gewässer und deren Uferbereiche. Die Tiere leben monogam. Das Revier einer Biberfamilie, die aus dem Elternpaar und zwei Generationen von Jungtieren besteht, umfasst häufig ein bis drei Kilometer Fließgewässerstrecke. Biber sind reine Pflanzenfresser. Sie bevorzugen Kräuter, Sträucher, Wasserpflanzen und Laubbäume.

Die klassischen Biberbauten bestehen aus Wohnbauten und einem Biberdamm. Dazu werden teils herbeigeschlepptes Baumaterial wie abgenagte Äste, Zweige und Steine sowie durch den Biber abgenagte Bäume lose zu einem Damm aufgeschichtet. So lassen sich Bäche aufstauen und künstliche Teiche anlegen. Sie sorgen damit für einen sicheren Wasserstand über dem Eingang zum Wohnbau. Fotos: Jette Ulbricht

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