Leserbrief

Wer schon mal in seinem Leben die Chance hatte, einen Sterbenden, einen geliebten Menschen auf seinem letzten Weg, in seinen letzten Stunden, ein kleines Stück begleiten zu dürfen, der wird wissen, wie demütig und dankbar diese herausfordernde Erfahrung auf das Leben macht. Und ich schreibe ganz bewusst „Chance“, denn oftmals kann man sich nicht verabschieden, für den sterbenden Menschen da sein, seine Hand zum letzten Mal halten. Diese Erfahrung erdet extrem. Man schätzt die augenscheinlich banalsten Dinge, Sinne und Momente; erfreut sich, atmen, essen, trinken und aufstehen zu können, kurz: zu leben. Das eigene „Bewusst-sein“ ändert sich, die Sicht auf das Leben. Man weiß, worauf es ankommt und worauf nicht.

Es sollte eine Chance für uns übrige Erdlinge aufzeigen, darauf will ich hinaus. Ist uns die Demut verloren gegangen, weil wir alles vermeintlich Negative aus unserem Leben verdrängen oder „wegwischen“? Wir haben alles vor unserer Haustüre und sind doch so unzufrieden. In den sozialen Netzwerken herrscht Sodom und Gomorrha. Wir meckern, lästern und befeuern den Hass gegen unseren Nächsten. Wir beschweren uns über zu wenig Geld, über „Einschränkungen“, über angeblichen „Wohlstandsverlust“?!

Wer sind wir eigentlich?

Wo sind unsere gelebten Werte?

Was maßen wir uns an?

Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wir sollten uns als Menschen, als Gesellschaft, als „soziale Marktwirtschaft“ gut überlegen, welche Werte wir auf unser ganz persönliches Sterbebett mitnehmen möchten. Meine Theorie dazu ist: Wir haben „verlernt“, demütig und dankbar zu sein, weil wir schlechte Zeiten und den Tod nicht mehr vor Augen haben. Sonst wären wir nicht so unzufrieden.

All die Nörgler und chronisch Unzufriedenen sollten – wenn sie es nicht im familiären Umfeld, am eigenen Leibe, erleben – einen Sterbenden begleiten, temporär in einem Hospiz (ehrenamtlich) helfen oder im Krankenhaus, einer Pflegeeinrichtung. Das ist die beste „Therapie“ gegen Unzufriedenheit, Hass und Hetze.

Mirjam Kuschel, Königstein



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