Hält die Einheit der Rechtsordnung bei zunehmender Pluralität?

„Seid barmherzig mit den Zweifelnden“ – die Freiheit ist gewachsen, doch mit ihr auch die Verantwortung, daran erinnerte Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber im Königsteiner Forum. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – „Es ist einfach wundervoll, Professor Huber hier zu haben“, einen Vordenker der Sozialethik, freute sich Moderator Professor Dr. Diether Döring, als er den letzten Referenten im Königsteiner Forum zur Reihe „Zeit des Umbruchs – Ende alter Gewissheiten?“ ankündigte. Möglicher Weise müsse man als Reaktion auf die vielen Veränderungen eine neue Ethik gewinnen, daher hatte sich der Beirat das Thema „Fortschritt im Dienste der Menschheit? – Unsere geistige Verfassung und die Rolle der Religion“ gewünscht.

Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD und daneben immer auch wissenschaftlich tätig, unter anderem an der Universität Stellenbosch (Südafrika) ist „einer der profiliertesten deutschen Theologen und Vordenker in ethischen Fragen. Bekannt auch als Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (1994 bis 2009) meldet er sich immer wieder als Vertreter der Kirche zu Wort – und das gerne mit deutlichen Worten.

Geistige Verfassung

Gleichwohl sah Wolfgang Huber das Thema als eine echte Herausforderung an, was schon mit der Definition der geistigen Verfassung beginnt, noch etwas schwieriger wurde es, da er heute eigentlich nur noch von einer Welt-Gesellschaft reden will. Dennoch seien eine Gesellschaft und deren geistige Verfassung von der kleinsten bis zur größten Einheit stets von Pluralität gekennzeichnet, schon in der Individualität des einzelnen Mitglieds ist Vielfalt angelegt, deren unterschiedliche Aspekte zu unterschiedlichen Zeiten in den Vordergrund treten. Gut zu beobachten ist dies bei jenen Institutionen, die sich um Gleichstellung kümmern und dabei meist nur eine Ausprägung im Fokus haben. Dabei besteht immer die Gefahr, Menschen nur auf ein Merkmal zu reduzieren, daher empfahl der Referent, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Hinsichtlich der kurz zuvor beschlossenen „Ehe für alle“ warnte er, dass man die Geistige Verfassung leicht aufs Spiel setze, „wenn im Hauruck-Verfahren entschieden wird.“

Wird eine Typisierung wie im Fan-Block auf dem Fußballplatz der multiplen Identität des Menschen sicher nicht gerecht, führt sie darüber hinaus auch leicht zu einer Polarisierung, wie im Dritten Reich führen einzelne Merkmale leicht zu Hass. Eine solche „Identitätsfalle“ baut sich heute zum Beispiel dort wieder auf, wo große Gruppen auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert werden – und das zu Unrecht, denn ein Islam ist, wie das Christentum auch, in sich außerordentlich plural. Doch während zum Beispiel unter dem Stichwort Biodiversität in manchen Bereichen die Vielfalt in der Welt als positiv erkannt worden ist, werden Menschen als Teile der Gesellschaft noch immer gerne „in Schubladen gepackt“, wobei der Respekt vor allen weiteren möglichen Typisierungen verloren geht. Es fehlt die Erkenntnis, dass jeder Mensch selbst eine multiple Persönlichkeit besitzt, die in der Regel zu mehreren Gruppenzugehörigkeiten führt – die Identität des Menschen an sich entzieht sich also solchen Einordnungen. Um dem gerecht zu werden, müsste man von einer multiindividuellen Gesellschaft reden statt von einer multiplen oder multikulturellen.

Je größer die Heterogenität in einer Gesellschaft, desto wichtiger wird deren Einigung auf gemeinsame Grundwerte und ein zugehöriges Rechtssystem, aktuell vor dem Hintergrund der Flüchtlingswelle stellt sich gar die Schlüsselfrage: Hält die Einheit der Rechtsordnung bei zunehmender Pluralität? Offenbar aus Angst vor unbekanntem Fremdem werden hier schnell typische Fälle im Rechtswesen konstruiert, die wiederum den Blick auf die einzelne, vielfältige Person vermissen lassen. Solches spielt dem Populismus in die Hände, den man zwar bekämpfen sollte, aber nicht ohne seine Ursachen ernst zu nehmen. Hier ist im Gegenteil produktiver Streit als Teil der Demokratie angesagt, der allerdings keine Kompromisse in Gewaltfragen eingehen darf.

Stand der Religion

Ganz offensichtlich ist die Prognose einer „säkularen Gesellschaft“ in Folge des technischen Fortschritts nicht eingetreten, allerdings verteilt sich das Angebot nun auf mehrere Religionen nebeneinander und Fundamentalismus führt auch hier zu Gewalt. Das Christentum muss erkennen, dass es sein Monopol für Antworten auf grundlegende Fragen in der Welt verloren hat, es muss sich mit anderen Glaubensrichtungen arrangieren und auch mit einer „säkularen Option“, die vielleicht eher einer Religion ohne Gott gleicht als dem Atheismus. Dazu zählt vielleicht auch die Anerkennung der Menschenwürde als eine Art „Sakralisierung der Person“, was sich aber – als gegenüber von Gott – in den christlichen Glauben einbinden ließe.

In den USA, aber auch in den Schwellenländern nimmt Religiosität sogar zu, die Verbreitung auch fundamentalistischer Inhalte nutzt in Form moderner Medien auch den technischen Fortschritt.

Allerdings verändert sich dadurch die Art der Bindung an eine Religion, statt früherem gesellschaftlichem Hineinwachsen steht heute eher eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen an. In diesem Umfeld mahnte Huber eindringlich ein Zusammenwachsen der christlichen Konfessionen zu einer „Kirche versöhnter Verschiedenheit“ an, überließ das Resultat aber höheren Mächten: „Wer an Gott glaubt, der legt auch die Zukunft der Religion in Gottes Hand.“

Herausforderung Fortschritt

Der technische Fortschritt eröffnet dem Menschen riesige Möglichkeiten, allerdings fehlt es noch an einer Ethik, die der Wissenschaft Grenzen setzt. Im „Anthropozän“ ist die Menschheit in der Lage, die Welt so nachhaltig zu verändern, wie es zuvor nur Naturkräfte konnten – diese wirken aber weiterhin, außerhalb menschlicher Kontrolle. Letzteres wird aber gerne vergessen, und so entsteht eine Art Größenwahn, die Welt beherrschen zu können, ein Problem, mit dessen Bewältigung die Kirchen alleine überfordert sind. „Der Mensch macht viele Fehler, aber er kann unterscheiden zwischen Gott und Mensch“, und hoffentlich auch zwischen Mensch und Maschine, so der Ansatz des Kirchenmannes.

Aber es braucht auch Einsicht aus anderen Lagern: „Gute Wissenschaftler wissen, dass sich mit jeder Entdeckung, die sie machen, eine Vielzahl ungelöster Fragen auftut“, also bedarf es einer neuen Verantwortungsethik auch für nicht voraussehbare Folgen, wenn der Mensch zum Beispiel in einer Welt voller Menschen handelt anstatt früher in weitgehend leerem Raum. Vor allem darf die reine Machbarkeit nicht mit echtem Fortschritt verwechselt werden, es müssen also zukunftsfähige Haltungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft entwickelt werden. Voraussetzung dafür ist wiederum die Zuversicht in eine gute Zukunft der Menschheit, die sich zum Beispiel in der Familienpolitik ausdrücken kann.



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