Kommt die „Koalition der Frommen“? – Zeit für Reformation auch bei Protestanten

Schneidhain (hhf) – Die „Zeiten des Wandels“ werden wohl ewig bestehen, das Jahr unter diesem Motto im „Offenen Treff für Jedermann“ hingegen hatte mit dem letzten Vortrag unwiderruflich sein Ende genommen. In guter Tradition bedankte sich Moderator Reinhold Siegberg noch einmal ausdrücklich bei Sponsoren, Sparschwein-Fütterern und Hausherren für die Unterstützung, ohne die die Vortragsreihe nicht existieren könne. Bevor der Abend sich bei Brezeln und Wein in eine gemütliche Diskussion um Vorschläge für neue Themen wandeln sollte („Das nächste Jahr ist aber schon fertig“), gab es aber erst noch einmal Applaus für den Referenten: Meinhard Schmidt-Degenhard.

Bekannt als Moderator und Redaktionsleiter beim Hessischen Rundfunk („Horizonte“), hatte der stimmlich leicht angeschlagene Journalist gerade eine „Reise quer durch die Republik“ hinter sich, er kam direkt von der ARD-Konferenz in Bremen. Beim dortigen „Radio Bremen“ bekam er nach dem Volontariat seine erste Anstellung, nachdem er zuvor in Frankfurt am Main und Utrecht (Niederlande) ein Studium in Philosophie, Theologie, Pädagogik und Soziologie absolviert hatte.

In seiner Eigenschaft als Leiter der TV-Redaktion „Gesellschaft, Ethik und Religion“ hatte er 2012 eine religionssoziologische Untersuchung initiiert, die nun auch Grundlage seines Vortrages „Was glauben die Hessen? – Glaube und Kirche im Wandel“ sein sollte, doch ließ ihn die Aktualität vom Konzept abweichen: „Tolles Timing“ bescheinigte er den Organisatoren augenzwinkernd, ernsthaft bezeichnete er das Thema aber als zum Abschluß der Jahresreihe „genial gewählt“. Das Augenzwinkern bezog sich auf den Umstand, dass Papst Franziskus just einen Tag zuvor seine „Regierungserklärung“ vorgestellt hatte, das Evangelii Gaudium, was direkte Auswirkungen auf den Abend hatte: „Mein Vortrag wäre zu einem anderen Zeitpunkt anders ausgefallen.“

Es könne einem „angst und bange werden“, wenn der neue Papst seine Kirche nun zum Wendepunkt führe: „Wozu braucht man dann Protestanten noch?“. Wichtige Vorarbeit bescheinigte der Fachmann dabei auch Papst Benedikt, der vor etwa drei Jahren den Begriff der „Entweltlichung“ geprägt hatte: „Die Kirchen sind zu satt geworden, sie müssen ein Stück aus der Welt hinaus“, sollen Stachel im profanen Geschehen sein und nicht davon profitieren. Mit dieser Form der Gewaltenteilung zielte Rom durchaus schon auf Deutschland, noch bevor es zum Skandal um den Bischof von Limburg gekommen war. „Franziskus ist ein radikal Linker“, von der Theologie der Befreiung geprägt, wenn auch selbst nicht unbedingt dazugehörig, will er die Ortskirchen stärken und auch vor seinem eigenen Stuhl nicht Halt machen und die „Kirchenleute nicht mehr als Aufpasser“ über ihre Mitmenschen einsetzen: „Sakramente sind ein Geschenk der Gnade.“ Wenn aber Martin Luther im Zorn auf den Ablasshandel dereinst festgestellt hat: „Die Gnad‘ ist umbsunst“, lässt sich erahnen, dass die Reformation (oder gar Revolution) der Katholiken auch Auswirkungen auf die Protestanten haben wird, denn die müssten ihren Unterschied zur katholischen Kirche neu definieren (oder sich mangels Unterschieden wieder mit ihnen zusammentun, Anm. d. Red.).

Mit Blick auf die bisherigen Unterschiede bezeichnete Schmidt-Degenhard Franz-Peter Tebartz-van Elst nicht als Skandalbischof, sondern als einen treuen Sohn der Kirche, der durchaus auch seine Anhänger hat. „Eigentlich ein honoriger Baumeister“, der es allerdings etwas übertrieben hat, vielleicht ein Fall von „klerikalem Autismus“, sein tragisches Scheitern. Dennoch nur der Tropfen, der ein volles Fass zum Überlaufen gebracht hat: „Auch wenn Tebartz-van Elst geht, wird das Bistum Limburg seine Probleme über Jahre behalten.“ Anders ausgedrückt: „Tebarz-van Elst ist Bischof unter dem falschen Papst“, denn eigentlich hat er nur weitergetrieben, was andere Bischöfe vor ihm angefangen haben.

Eine „spezielle Kleriker-Identität“ werde Bischöfen allgemein zugestanden, also war die Kirche keinesfalls blind, als sie ihn auswählte und etliche Mitläufer befinden sich noch in Amt und Würden. Diese Praxis hatte freilich schon in den 80er-Jahren Eugen Drewermann mit seinem Buch „Die Kleriker“ an den Pranger gestellt, woraufhin er seine Lehrerlaubnis verlor – er war schlichtweg zu früh dran. Heute sieht es anders aus: „Dieser Katholizismus liegt in den letzten Zügen“, der „Tebarz-Effekt“ zeigt, dass die Kirche ihr Vertrauen verspielt hat und genau das ist gefährlich, denn: „Die Menschen sehnen sich nach Religion.“

Allerdings ist das Bedürfnis in den heutigen Tagen ein anderes als das althergebrachte, was die Menschen nun begreifen und mit Kirchenaustritten quittieren – wohlgemerkt geschieht dies ebenso bei den Evangelischen, deren Konfession sich eher als orientierungslos, gemeinsam mit den Katholiken als „verloren in der Defensive“ präsentiert. „Die Menschen haben inzwischen ein anderes Bild von Religion“, so die Ergebnisse der Umfrage aus dem vergangenen Jahr, fast ebenso viele, die meinen, dass es gut sei, dass es die Kirche gibt, bemängeln auch, dass sie keine Antworten auf die Fragen gibt, die die Gläubigen wirklich beschäftigen. Im Umkehrschluss geben die Kirchen stattdessen Antworten auf Fragen, die sich keiner mehr stellt: „Die Luther-Frage ‚wie bekomme ich einen gnädigen Gott?‘ interessiert heute keinen mehr, sondern ‚wie bekomme ich ein gutes Leben, wem kann ich vertrauen?‘“

Den Sinn ihres Lebens definieren die modernen Menschen selbst, schätzen dabei allerdings nicht nur die karitativen Einrichtungen, sondern auch den sozialpolitischen Einfluss: „Ohne Kirchen wäre die Gesellschaft ärmer!“ Vielleicht sollte es aber besser heißen „Ohne Religion wäre die Gesellschaft ärmer“, denn „in den letzten Jahren kommt das Judentum wieder in die Debatte“. Im Schatten terroristischer Umtriebe entwickelt außerdem gerade in Deutschland der friedliche Islam ein neues Selbstbewusstsein, geht offen und integrationswillig auf die Gesellschaft zu, wo er auch ankommt. „Die Islam-Verbände begreifen die säkulare Gesellschaft und gliedern sich ein“, so die Beobachtung des Journalisten, und: „Die westliche Welt verändert den Islam mehr als der Islam die westliche Welt.“ Allerdings „können wir in Deutschland sehr froh sein, dass wir den türkischen Islam hier haben“ und nicht etwa die arabische oder nordafrikanische Variante, wie sie historisch in Frankreich gewachsen ist. „Die Gastarbeiter als Pioniere haben immer noch einen guten Eindruck von der geordneten Gesellschaft“, daher ist die Randale gerade der Jugendlichen deutlich geringer als in Nachbarstaaten.

Sogar einen „Schulterschluss der Frommen“ hat Meinhard Schmidt-Degenhard ausgemacht, neuerdings springen sich Vertreter der Juden, Muslime und Christen gegenseitig bei, wenn eine der Organisationen grundsätzlich angegriffen wird. Dennoch schützt eine solche heilige Allianz nicht vor dem Eingeständnis von Fehlern: „Die katholische Kirche fährt voll vor die Wand und die evangelische sitzt auf dem Beifahrersitz“, zitierte der Referent die FAZ, gefolgt von der Zukunftsprognose: „Es geht ans Eingemachte.“

Besonders die Diskussion um den Reichtum der Kirchen dürfte sehr tief werden und damit sicher auch die Verbindung von Kirche und Staat, obwohl diese in finanziellen Dingen nicht ehrenrührig ist, sondern historisch gewachsen: „Die Kirche zahlt für die Dienstleistung“, also das Eintreiben der Kirchensteuer durch die Finanzämter. Und manche Gelder, die vom deutschen Staat an die Kirchen gehen, liegen darin begründet, dass der Reichsdeputationshauptschluss 1803 Grundbesitz und Vermögen der Kirchen eingezogen hat (in dessen Folge unter anderem auch das Kapuzinerkloster in Königstein geschlossen worden ist).

Daraus ist dem Staat aber die Verpflichtung erwachsen, für den Unterhalt der Enteigneten zu sorgen, ein weder theologisch noch philosophisch angreifbarer Grundwert.

Möglicherweise wird es sinnvoll, diese enge Verbindung in Zukunft aufzuheben, (der Staat müsste die Kirchen dann aber „auszahlen“), denn auch für die Träger wichtiger Werte gilt „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Offenheit, Transparenz und Vertrauen können jetzt noch einen Traditionsabbruch verhindern, denn „religiöses Gut wird nicht vererbt.“ Noch leben Generationen, denen christliche Werte etwas sagen, auch wenn sie in der Statistik schon als „konfessionslos“ geführt werden – geschieht zu lange nichts, könnte das Wissen um die guten Wirkungen verloren gehen. In diesem Zusammenhang bietet der „neue“ Papst also große Chancen für beide Konfessionen, um einen Trend zu stoppen, den Weihbischof Pieschl recht aufgebracht einmal so ausdrückte: „Früher waren die Kirchen Objekte des Zorns – heute sind sie Objekte der Lächerlichkeit.“

Gegen eine „lädierte Stimme“ schwört Meinhard Schmidt-Degenhard auf heißes Wasser – zumindest im Offenen Treff wirkte die ayurvedische Methode zuhörends.

Foto: Friedel



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