„Nicht meckern, machen!“ – Spätlese in der Stadtbibliothek

Königstein (vo) – Sich über gesellschaftliche Missstände zu empören ist einfach. Kriminelle, gewalttätige Jugendliche, Scheinheiligkeit, hinter der sich moralische Verkommenheit und Intoleranz verstecken – das Übel ausmachen und darüber meckern, das ist keine Kunst. Wie aber kann man sich für die Tag- und Nachtseiten einer Gesellschaft interessieren und das Negative verändern, statt nur unproduktiv Kritik zu üben? Bei solch grundsätzlichen Fragen an das Leben ist es oft die Literatur, die Orientierung gibt. Bei der Spätlese in der Königsteiner Stadtbibliothek boten Dr. Michael Hesses Vortrag zu Erich Kästners Roman „Gang vor die Hunde“ und die anschließende Diskussion mögliche Antworten.

Kästners Roman beschreibt den Berliner Alltag der Weimarer Republik durch die Brille des Werbetexters und Journalisten Fabian, zahlreiche autobiografische Elemente erinnern an das Leben des Autors. Am Originaltext nahmen Kästner und auch sein Lektor Curt Weller dann wenige Änderungen vor, 1931 erschien eine erste Version des Textes, sie hatte mit „Fabian“ den Namen des zentralen Charakters zum Titel. Erst im vergangenen Jahr wurde der ursprüngliche Text der Leserschaft unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“ im Atrium-Verlag wieder zugänglich gemacht.

Der Weimarer „Tanz auf dem Vulkan“ ist für Fabian und seinen engen Freund Labude sehr präsent, ihr Alltag ist von deftigen Feiern, Bordellbesuchen und allerlei Obszönitäten geprägt, das Leben in der Großstadt wird in allen Facetten geschildert. „Dabei geht es aber nicht um billigen Voyeurismus, vielmehr dienen etwa die zahlreichen sexualisierten Szenen dazu, die übertünchten Zusammenhänge zwischen Gewalt, Dominanz, Macht und Sexualität im bürgerlichen Milieu der 1920er Jahre herauszuarbeiten“, deutete Hesse, der mit der Spätlese dieses Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feiert.

Fabian ist, wie sein Schöpfer Kästner, ein Moralist, der das Leben aber nicht aus der Ferne beobachtet und kritisiert, sondern aktiv mitmischt. Erst dadurch ergibt sich für ihn die Möglichkeit, seine eigene Moralität unter Beweis zu stellen – oder mit dem eigenen Scheitern konfrontiert zu werden. Fabian versagt mit seinem moralischen Anspruch, mit einer wesentlichen Konsequenz: Erst dieses Engagement, die eigene Aktivität inklusive der Möglichkeit, zu scheitern, erschließen dem Moralisten überhaupt das Recht, Kritik an seiner Gesellschaft zu üben. Die Probleme und Schattenseiten eines sozialen Gefüges sind letztlich immer hausgemacht – und somit auch veränderbar, wenn man es nur möchte. „Also nicht meckern, sondern machen!“, brachte Hesse die Kernaussage des Romans auf den Punkt und gab den Aufruf unmittelbar an seine rund 40 Zuhörer weiter.

Doch die Botschaft in Kästners „Fabian“ hat noch eine weitere Dimension, diese wird am Ende des Romans sehr präsent. Fabian, der die Missstände seiner Gegenwart immer wieder unmittelbar erlebt und seinen Mitmenschen Unterstützung anbietet, scheitert oft und schließlich ganz massiv: Beim Versuch, einen im Wasser treibenden Jungen zu retten, ertrinkt der Nichtschwimmer Fabian – während der Junge problemlos ans Ufer schwimmt. Die Kapitelüberschrift „Lernt schwimmen!“ ist die einzige unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Leser im umfangreichen Roman, sie möchte den Literaturkonsumenten an eine Fähigkeit heranführen, die auch Kästner beherrschte: Sich im Strom der Zeit über Wasser zu halten, sich nicht überwältigen und unterdrücken zu lassen, sondern den Kopf über Wasser zu halten, eben „schwimmen“ zu lernen.

Auch wenn konkrete politische Kritik im Roman kaum eine Rolle spielt, sich Kästner weder der rechten Ideologie andient, noch kommunistische Ideal-Utopien heraufbeschwört, so ist der „Fabian“ doch eines der politischsten Prosawerke Kästners, ist sich Hesse sicher. Gerade weil Missstände, Gewalt und Obszönitäten nicht auf eine wie auch immer geartete Ideologie „abgeschoben“ werden, sondern als originäre, aber veränderbare Erzeugnisse der Gesellschaft entlarvt werden, legt der Text den Finger in die Wunde. So wie es einfacher ist, aus der Ferne zu meckern, so ist auch das Abschieben individueller und gesellschaftlicher Verantwortung auf abstrakte politische Systeme sehr viel einfacher, als selbst etwas zu ändern. Kästner selbst fand schließlich über das Schreiben seinen Weg des „Schwimmens“ und hoffte auf die pädagogische Wirkung der Lektüre eines Romans, der durch die explizite Schilderung der Schattenseiten zumindest Beunruhigung schaffen möchte. Wie der Leser darauf reagiert, bleibt in der Literatur wie im Leben ihm selbst überlassen.

Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Dr. Michael Hesse im Kreise interessierter Zuhörer bei seinem Vortrag über einen gehaltvollen Roman – Erich Kästners „Gang vor die Hunde“.

Foto: Oberhansl



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