Medizin und Ethik: „Vergiss das Leben in seiner Fülle nicht!“

Ob der Wegweiser dabei hilft? Grundsätzlich neue Lebens-Arbeitszeitmodelle auszuarbeiten, das war eine der Forderungen von Prof. Dr. med. Christiane Woopen im Königsteiner Forum. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – Wohl wegen der großen Hitze war die „Forumsgemeinde“, die Moderator Prof. Dr. Diether Döring in der wohlklimatisierten Volksbankfiliale zum letzten Vortrag vor der Sommerpause begrüßte, etwas zusammengeschmolzen. Am Thema oder gar dessen Aktualität hatte es sicher nicht gelegen: „Gesundheit im Lebenslauf – Schlüsselfragen der Medizinethik“ standen auf dem Programm und tatsächlich sollten vor allem diese Fragen deutlich formuliert werden, eine Antwort muss nämlich die Gesellschaft selbst darauf finden.

„Als potenzielle Patienten gehen wir heute mit bestimmten Erwartungen an die Ethik der Medizin heran“, vor allem in der letzten Lebensphase, erinnerte der Moderator an weit verbreitete Überzeugungen, die zum Beispiel davon ausgehen, dass die Mediziner „unseren Willen achten“, sich nur dem Wohl der Menschheit widmen oder nicht vorrangig auf materiellen Nutzen schauen sollen.

Da aber ohne materiellen Nutzen auch kein Fortschritt in der Medizin zustande kommt, hingegen die neuen Möglichkeiten einer kritischen Beurteilung über Fug und Unfug bedürfen, gibt es Einrichtungen wie den Ethikrat, der der Politik und damit der Gesellschaft die notwendigen Entscheidungen erleichtern soll. Den Vorsitz im Deutschen Ethikrat hat Referentin Prof. Dr. med. Christiane Woopen seit 2012 inne, sie ist in Köln Professorin für Ethik und Theorie der Medizin. Ebenfalls in Köln, dazu Bonn und Hagen studierte sie Humanmedizin und Philosophie, mittlerweile ist sie als Prodekanin für akademische Entwicklung und Gender auch zuständig für den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Überwindung von gender bedingten Unterschieden bei Karrierechancen.

Zusätzlich fungiert sie unter anderem als Leiterin der Forschungsstelle Ethik an der medizinischen Fakultät der Universität zu Köln, ist geschäftsführende Direktorin von ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics and Social Sciences of Health) in Köln und Mitglied im International Bioethics Committee der UNESCO. Zwischen all diesen Ämtern ist ihr aber der Blick für das Wesentliche ganz offensichtlich nicht abhanden gekommen: Zunächst bat die Referentin um Entschuldigung dafür, dass sie ihre Zuhörerschaft nicht nur von einem schönen Sommerabend im Freien abgehalten hat, sondern auch für ihr Ziel, das Publikum nicht mit Antworten, sondern mit noch mehr Fragen gehen zu lassen. Auf die wichtigen Schlüsselfragen könne es nämlich keine einfachen Antworten geben, dazu sei vielmehr ein gesellschaftlicher Diskurs nötig.

Als ihre ethische Perspektive gab sie allerdings das „gute und gelingende Leben“ vor – was für ein Individuum ebenso gilt wie für eine soziale Gemeinschaft, damit aber schnell zu unterschiedlichen Forderungen führt. Als Beispiele hatte sie den Anfang des Lebens, den Lebenslauf und das Ende des Lebens ausgesucht.

Mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch kam gleich ein „jahrtausendealter ethischer Konflikt“ zur Sprache, der allerdings durch moderne Untersuchungsmethoden eine neue Qualität bekommen hat. So sind aus einer Blutprobe im Verfahren der nichtinvasiven Pränataldiagnostik („Die Technik hat das Potenzial zur Routineanwendung“) leicht immer mehr, wenn auch noch nicht alle genetischen Eigenschaften des ungeborenen Kindes zu ermitteln. Gegebenenfalls könnte dann vermittels „Genome Editing“ – wie bereits in der Landwirtschaft bei Pflanzen und Tieren üblich – etwas an diesen Eigenschaften verändert werden, worüber derzeit ein „Erschrecken“ der Gesellschaft festzustellen ist: „Bis zum Designerbaby ist es nicht mehr weit.“

Genau hier müssen den Möglichkeiten nun ethische Grenzen gesetzt werden, dabei gehen die Meinungen der Fachleute aber weit auseinander. Befürworter weisen auf die Möglichkeiten hin, zum Beispiel Anfälligkeit für Diabetes oder Alzheimer verringern zu können: Wenn man sich entscheidet, ein Kind zu bekommen, sollte man ihm die besten Chancen zugestehen. Gegner von Farbwahl für Augen und Haare wollen Kinder nicht als „Objekte des Designs“ verstanden wissen, sondern als Geschenke, die man zu nehmen hat, wie sie sind. Einige stellen das Wohl des Kindes in anderer Form heraus, schließlich wird ihm das Recht auf Unwissen genommen, die Entscheidung, seine Gene zu kennen oder nicht. Philosoph Jürgen Habermas drückt es so aus: „Programmierte Personen sind nicht länger die ungeteilten Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte.“

Aber auch die Herausgeber dieser neuen Lebensgeschichte müssen heute nicht mehr zwei leibliche Elternteile sein. Erfolgt die Befruchtung im Rahmen der Reproduktionsmedizin und wird das Kind dann von einer Leihmutter ausgetragen, sind schon vor einer im Anschluss möglichen Adoption (durch Homosexuelle?) reichlich Personen maßgeblich beteiligt. Das wiederum stellt die Juristen vor eine große Aufgabe: Wer hat denn nun ein Recht an dem neuen Leben (außer ihm selbst) – und von wem stammt es eigentlich ab, wen beerbt es einmal, wer zahlt Unterhalt, zu wem darf es „Mama“ sagen? Keine einfachen Fragen in einer Gesellschaft, die noch immer die „Familie als ihren sozialen Grundbaustein“ ansieht. Angenommen, Otto-Benjamin Normalverbraucher hat Geburt und Zappelphilipp-Syndrom-Jugend von fürsorglichen Eingriffen unbeschadet hinter sich gebracht, schützt ihn der weitere Lebenslauf als Erwachsener auch nicht vor den Folgen des medizinischen Fortschritts. Prädiktion und Prävention drängen ihn nun, in die Zukunft zu blicken und sein „Leben nach den Genen gesund auszurichten“. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Brustamputation von Angelina Jolie, aber gerade diese Bekanntheit setzt nun die Damenwelt unter Druck. Schon für 125 Euro kann man via Internet von einem Labor erfahren, ob man selbst betroffen ist, „ein großes Geschäftsfeld“, doch gibt es auch noch andere Therapiemöglichkeiten, von denen der Laie nichts weiß.

Das Arztgespräch ist eben doch nicht unverzichtbar, allerdings schwindet hier althergebrachtes Vertrauen, da die aktuelle Gesetzgebung den Trend hat, vom Arzt-Patienten-Verhältnis mit Haftung des Mediziners zur Kunden-Dienstleister-Beziehung zu mutieren, wobei der Kunde Informationen selbst beschafft und auch dafür haftet. „Selbstbestimmung“ ist hier wieder einmal das eingängige Schlagwort, aber wer schützt den Laien vor Scharlatanen? Hier hat Christiane Woopen einen praktikablen Kompromissvorschlag in der Tasche: „Es reicht nicht, informiert zu sein“, stattdessen könnte die Regierung eine Internet-Plattform einrichten, in der die verfügbaren Gentests etc. einer qualitätvollen Bewertung durch Fachleute unterzogen werden. Selbstverständlich wäre diese ohne Anmeldung zugänglich, denn Arbeitgeber, Versicherungen oder Pharmaunternehmer sammeln bereits viel zu viele Daten über ihre Interessengruppen.

Diese sind aber auch gerne zu unbesorgt, wenn sie zum Beispiel ihre Bio-Daten beim Joggen von „Apple-Watch“ oder Ähnlichem drahtlos übertragen lassen. Umgekehrt müssen manche Daten ins Netz eingegeben werden, wenn man sich dort informieren will, daher empfiehlt die Medizin-Ethikerin die Entwicklung „neuer gestufter Modelle“ für die Einwilligung zum Datengebrauch.

Ohnehin sollte die Politik endlich „aufpassen, aufwachen und eingreifen“, wenn Betreiber von großen Internetportalen längst freiwillig zugeben: „Wir befinden uns in einem Wettrennen auf Leben und Tod zwischen Technologie und Politik.“ Dabei steht nicht nur eine Entsolidarisierung entgegen der Prinzipien der gesetzlichen Krankenkassen auf dem Spiel, sondern auch das eigene Lebensende. Gleich der unreflektierten genetischen Zukunftsvisionen bietet gerade das Internet auch etliche Möglichkeiten, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, ebenfalls gerne ohne die nötige Beratung dazu. Sterbehilfe – wieder ein brisantes Thema – sollte aber sicher nicht zum Normalfall werden, so viel Antwort hatte Christiane Woopen dann schon im Gepäck. Den Rest, darunter auch endlich eine Hebung der Potenziale der älteren Menschen im Berufsleben, die im Übrigen keine Diskriminierung im Sinne der Gleichheitsförderung darstellt, muss die Gesellschaft recht bald ausdiskutieren.



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