„Re-Feudalisierung“ unserer Gesellschaft? – „Die größte Ungerechtigkeit ist das Übergangenwerden“

Königstein (hhf) – Ein wenig ungerecht ist es schon, dass die Mitarbeiter der Frankfurter Volksbank immer dann länger arbeiten müssen, wenn das „Königsteiner Forum“ wieder in der Taunus-Filiale tagt. Für diese „besondere geistige Schalterstunde“ bedankte sich Moderator Professor Dr. Diether Döring auch diesmal wieder besonders nachdrücklich und zeigte so seinen Willen, der im Jahresthema festgeschriebenen „Suche nach der richtigen Ordnung“ auch Taten folgen zu lassen.

Hauptgegenstand der Vortragsreihe ist allerdings die Theorie und zu diesem Zweck hatte man den Co-Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ eingeladen, über „Politische und soziale Gerechtigkeit“ zu referieren. Professor Dr. Rainer Forst lehrt Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist nach Einschätzung von Diether Döring der „wichtigste deutsche Philosoph der Gegenwart“, unter anderem 2012 mit dem Gottfried Wilhelm Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgesellschaft ausgezeichnet. Neben regelmäßigen Veröffentlichungen (z.B. „Toleranz im Konflikt, 2003) blickt der 1964 geborene Forst auf Lehrtätigkeit in Berlin, New York und New Hampshire zurück. Aktuell fungiert er auch noch als Co-Direktor der Kollegforschergruppe „Justitia Amplificata“ und Direktoriumsmitglied des Forschungskollegs „Humanwissenschaften“ in Bad Homburg.

„Die Balance zwischen Abstraktion und Konkretion“ versprach Professor Forst zunächst (und hielt dieses Versprechen auch), dennoch führte kein Weg an einer Definition des Begriffes „Gerechtigkeit“ vorbei, deren Spuren er anschließend in Politik und demokratischer Gesellschaft suchen wollte – immerhin gilt die Gerechtigkeit als „erste Tugend politischer Institutionen“.

Willkür kann hier als Gegenteil von Gerechtigkeit gelten. Um sie auszuschalten, müssen sich die Institutionen möglichst gegenüber allen Personen der Gesellschaft rechtfertigen, besonders auch vor den sozial schwächsten Mitgliedern. Gerechtigkeit ist also mehr als nur der Versuch, Besitz oder Güter gleichmäßig zu verteilen, sondern ein übergeordneter Begriff, der schon mit dem Zugang zur demokratischen Entscheidung über die Verteilung beginnt: „Die größte Ungerechtigkeit ist das Übergangenwerden.“

Nicht „Wer hat was?“, sondern „Wo wird entschieden, wer was haben darf?“ ist also die Frage der Gerechtigkeit, die Beteiligung an der Politik und damit die Mitbestimmung über die Verteilung von materiellen Gütern ebenso wie Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen ihre Antwort. Mancher ist sogar freiwillig bereit, weniger vom Kuchen abzubekommen, wenn zuvor seine Argumente gehört worden sind und er selbst über die Qualität anderer Argumente mitentscheiden durfte. Dass oft mehr als ein Anspruch Relevanz besitzt, zeigt die beispielhaft angeführte Diskussion um die Verteilung eines Kuchens in der Familienrunde: Während ein Kind auf strikte Einhaltung des Grundsatzes der Gleichverteilung pocht, reklamiert ein anderes seinen Verdienst als Helfer in der Küche und ein drittes führt an, schon lange nichts mehr gegessen zu haben. Ist schon jetzt die Frage offen, wie die Mutter als Instanz der Gerechtigkeit entscheiden wird, so fehlen akkreditierte Autoritäten in der Gesellschaft meist. Auch Göttin Justitia wohnt nach Einschätzung des Referenten „auf der selben Ebene wie die Dämonen“, statt der Instanz sollte daher das Verfahren an sich wichtig sein.

Auch hehre Ansprüche wie die Freiheit – in ihrer Eigenschaft als Unfreiheit der jeweils anderen ein grundlegender Diskussionsgegenstand jeder Demokratie – muss sich der Gerechtigkeit unterordnen, denn sie bewertet schließlich die Argumente der Konfliktpartner. Eine solche Bewertung steht sogar über den Mehrheiten im demokratischen System, denn diese nehmen sich gerne das Recht heraus, staatsbürgerliche Rechte zu beschränken und das ist dann ungerecht, eine Herrschaft der Willkür. Um dies zu verhindern, bedarf es eines Regelwerkes in der Demokratie, das nicht nur wie derzeit oft als „Reparaturbetrieb, um Schnitzer auszubügeln“ benutzt wird, sondern die Beziehungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und ihrer Ansprüche von Anfang an gerecht ordnet.

Ein solcher Mechanismus aber scheint in der deutschen Gesellschaft zu fehlen, wie sonst könnte sich die „Schere“ zwischen arm und reich immer weiter öffnen? Stattdessen konstatierte der Referent eine „Re-Feudalisierung“ der Gesellschaft, in der zum Beispiel Bildungs- und berufliche Aufstiegschancen je nach sozialer Schichtzugehörigkeit regelrecht vererbt werden. Parallel dazu zerfasert sich der Begriff „Gerechtigkeit“ in Teilbereiche, die stets nur schiefe Bilder der Gesamtlage zeichnen, man redet von „Generationengerechtigkeit“, wenn es um Staatsschulden und Rente geht, Bedarfs- oder Bildungsgerechtigkeiten. Die Chancengerechtigkeit schließlich dreht sogar den Spieß endgültig um und wirft den Angehörigen der unteren Schichten vor, sich nicht genug um ihren Aufstieg zu kümmern. Die Rechtfertigungslast wird von der Gesellschaft jenen Schwachen zugeschoben, die sie mit ihrer Ordnung selbst produziert.

Folglich ist im Sozialstaat eine Systemänderung nötig, um die Teilhabegerechtigkeit nicht auf Reparaturen des Sozialsystems durch milde (und knappe) Gaben an die Verlierer zu reduzieren. Statt solcher Exklusion ganzer Bevölkerungsschichten muss die Inklusion aller das Ziel einer gerechten Politik sein, dazu muss auch den Schwachen die Teilhabe an der kritischen Reflexion über die Institutionen wieder zugestanden werden. Stimmrechte alleine genügen dazu nicht, es bedarf auch eines Informationsrechtes mit adäquater Umsetzung gerade für die (bildungs-)ärmeren Schichten, während die Privilegien der Bessergestellten auf ihre Rechtfertigung hin überprüft werden müssen.

„Ungleichverteilungen sind nur dann legitim, wenn kein anderes System den Ärmsten mehr Gleichheit bringt“, mahnte der Philosoph den Grundsatz der gerechten Demokratie an, sich an der Lage der Schwächsten im System zu orientieren. Statt Mindestlöhne festzulegen, sollte man sich lieber die Frage stellen, wie sich im aktuellen System ein faires Einkommen erwirtschaften lässt. Auch „ein System, das der Mehrheit der Bevölkerung ein gutes Einkommen sichert, ist nicht gerecht gegenüber den Ärmsten“, auch wenn es in Ordnung ist, dass jemand, der mehr leistet, mehr verdient, fehlt eine gerechte Beurteilung darüber, wer in der Lage ist, was zu leisten und wie Leistungen auf verschiedenen Gebieten miteinander in Beziehung zu setzen sind. Leistet ein Regierungsbeamter wirklich so viel mehr als ein Krankenpfleger? Und wie wird man eigentlich Regierungsbeamter?

„Ohne Chancengleichheit gibt es keine Leistungsgerechtigkeit in einer Gesellschaft“, legte Professor Forst die Prioritäten auf dem Weg zu einer gerechten Politik fest. Die täte, nebenbei gesagt, auch dem gesamten Erdball gut, „die Theorie der Gerechtigkeit, global zu denken ist nötig“, aber auch sehr schwierig. Während sich die Theoretiker solch neuen Problematiken stellen, backen sie erst einmal kleinere Brötchen für die Praxis in unserer kleinen, aber eigenen Gesellschaft, die trocken genug sind, um schlecht durch den Schlund der amtierenden Politiker zu rutschen: „Bevor wir über eine gerechte Verteilung diskutieren, müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass alle an dieser Diskussion teilnehmen können.“

„Was soll ich konkret tun?“ Mit seinem theoretischen, aber gut verständlichen Vortrag weckte Philosoph Rainer Forst den aktiven Wunsch nach mehr Gerechtigkeit, wie die anschließende Diskussionsrunde zeigte.

Foto: Friedel



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