Vom Unterdrückungsort zum Ort der doppelten Erinnerung: Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt

Königstein (sk) – „Kommen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts!“, so begann nicht selten das Martyrium von Bürgern in der DDR, die ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gerieten. Inhaftiert in der Untersuchungshaftanstalt Andreasstraße 37 in Erfurt, nahm man ihnen den Namen, ersetzte ihn durch eine Nummer und misshandelte sie systematisch durch monate-, manchmal jahrelange Verhöre und auf andere perfide, psychologisch wirkende Weise. Zeitzeugenberichte dokumentieren die dortigen Erlebnisse der Häftlinge.

Wie entsteht überhaupt aus einem 1878 im deutschen Kaiserreich erbauten Gefängnisgebäude, das fünf politische Systeme als Haftanstalt und Ort der Unterdrückung Andersdenkender überdauerte, eine Erinnerungs- und Bildungsstätte mitten in der Stadt Erfurt, wollte der Verein Terra Incognita e.V. im Rahmen seines Projektes „Festung Königstein – Ort europäischer Demokratiegeschichte“ wissen und lud zur Erklärung Dr. Jochen Voit ein. Der Historiker ist seit 2012 Leiter der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt. Er visualisierte die Gestaltung des ehemaligen Gefängnisses und des neu gebauten Glaskubus’ und erläuterte den Zuhörern die Dauerausstellung „Haft, Diktatur, Revolution – Thüringen 1949 – 1989“, die 2013 eröffnet wurde.

Von Repression zur Revolution

Die drei Schlagworte aus dem Ausstellungstitel bezeichnen die drei Stockwerke des Gebäudes. In der zweiten Etage im ehemaligen Zellentrakt der Staatssicherheit beginnt der Rundgang durch die Gedenkstätte und endet im Erdgeschoss mit der Darstellung der politischen Umbrüche 1989/1990.

Anders als klassische Gedenkstätten und Museen basiert die „Andreasstraße“ auf einem besonders zukunftsweisenden inhaltlichen wie gestalterischen Konzept. Ohne Ausstellungskatalog, dafür mit einem Geschichtsmagazin, gefüllt mit anregenden Zeichnungen (Graphic Novels), originalen Fotografien, vertiefenden Artikeln und mit bewegenden Geschichten der Zeitzeugen, ermuntert der Ort zur Auseinandersetzung mit jüngsten deutschen Diktaturerfahrungen und verbindet zwei scheinbar gegensätzliche Themen, nämlich die Unterdrückung und die Befreiung. Denn der Ort erinnert nicht nur an die Opfer der SED-Diktatur in Stasi-U-Haft, sondern zugleich auch an die mutigen Erfurter Bürger, die am 4. 12. 1989 erstmals eine Stasi-Bezirksverwaltung besetzten, um das MfS-Aktenmaterial sicherzustellen.

Optisch im absoluten Kontrast zum neoklassizistischen Gefängnisgebäude, bietet der aus Beton und Glas konzipierte Kubus eine Projektionsfläche, in der sich die ehemalige Stasi-U-Haft in comicartigen Bildern der friedlichen Revolution widerspiegelt. „Der Kubus ist das Wahrzeichen unserer Gedenkstätte“, beschrieb Dr. Jochen Voit den als Veranstaltungsort für vielfältige Themen genutzten modernen Anbau.

Denk- und machbar auch hier?

Die Idee und konzeptionelle Umsetzung der Gedenk- und Bildungsstätte in Erfurt traf bei den Zuhörern der Veranstaltung in der Villa Borgnis auf breites Interesse. Inwiefern sich Ähnliches für Königstein – in deutlich kleinerem Rahmen – eignen würde, blieb angesichts der immensen Unterschiede zwischen beiden Städten und insbesondere der Projektförderung offen.

In erster Linie ging es den Veranstaltern vielmehr darum zu zeigen, wie andere Städte mit ihren erinnerungswürdigen Gebäuden oder Denkmälern umgehen und wie sie damit Menschen ermutigen, sich mit historischen Ereignissen auseinanderzusetzen – getreu der von Wilhelm von Humboldt erdachten und von zahlreichen Autoren präzisierten Redewendung „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen. Wer die Gegenwart nicht versteht, kann die Zukunft nicht gestalten.“

Dr. Jochen Voit, Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt, schilderte in der Villa Borgnis kompetent und erfrischend die Entstehung und Entwicklung des Erinnerungsortes.
Foto: privat



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