Warum ein Weißbuch? – „Es gibt zu wenig Union in der Union“

Der Europaabgeordnete Thomas Mann – ein Nachbar aus Schwalbach – plädierte in Schneidhain für ein runderneuertes Modell der EU. Foto: Friedel

Schneidhain (hhf) – Gegen den Fußball hatte Politik schon immer einen schweren Stand – schon im alten Rom wusste man um den Einfluss von Brot und Spielen auf Volkes Wohlwollen gegenüber den Herrschern. Folgerichtig zeigten sich daher auch beim vergangenen Vortrag im „Offenen Treff für jedermann“ im evangelischen Gemeindehaus am Hohlberg einige Lücken im Feld der Zuhörer, was aber bei genauem Hinsehen gar nicht schlecht zum Jahresthema passte: „Europäische Union – Zwischen Europa-Euphorie der Gründerväter und EU-Lethargie der heutigen Gesellschaft“. Ähnlich sah das auch Moderator Dr. Christian Lauer, der sich angesichts der letzten Wahlergebnisse in der EU und dem „Brexit“ nun die Frage stellte, ob es denn vor diesem Hintergrund neue Initiativen auf deren Steuerungsebene gebe.

Mit dem Vortrag „Weißbuch zur Zukunft der EU: Vom Eliten- zum Bürgerprojekt“ hatten die Organisatoren hier sicher einen Volltreffer gelandet und mit dem hessischen Europaabgeordneten Thomas Mann (CDU) auch einen kompetenten Referenten gewinnen können, dem auch die plakative Darstellung seines Themas zuzutrauen war. Immerhin hat der gelernte Industriekaufmann 20 Jahre in Frankfurt am Main als Texter und Kreativ-Direktor in der Werbebranche gearbeitet, bevor ihn der politische Ruf 1994 nach Straßburg führte. Dort gehört er unter anderem dem Untersuchungsausschuss zu den Panama-Papers und dem Sonderausschuss zur Bekämpfung der Steuervermeidung von multinationalen Unternehmen an, ist Mitglied der EU-Delegationen Lateinamerika und Mexiko und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für soziale Angelegenheiten.

Seit 2009 Mitglied im Präsidium der CDU Hessen, wurde ihm bereits 2002 das Bundesverdienstkreuz für sein sozialpolitisches Engagement und den Einsatz für Menschenrechte verliehen.

In der EU ist nicht alles in Ordnung

Das Thema „Weißbuch“ liegt Herrn Mann auch persönlich am Herzen: „Europa geht nicht in die Binsen“, so seine Überzeugung, denn viele der aktuellen Krisen können durchaus auch als eine Stärkung angesehen werden. So habe der Mittelstand durch den „Brexit“ endlich kapiert, dass man zusammenarbeiten muss und Donald Trump unterstützt die EU auf seine ganz eigene Weise: „Sie wächst zusammen, weil es ihn gibt!“ Und schließlich ist es auch den „neuen Rechten“ trotz großer Worte in Koblenz schließlich nicht gelungen, Europa nachteilig durch Dezentralisierung zu verändern. Im Gegenteil zeigt sich, dass es für die anstehenden großen Probleme eben auch einer großen Gemeinschaft bedarf – wohlgemerkt ist darin Kritik durchaus angebracht ,aber eben nicht die Idee der Abschaffung. Ob alle wohl so weit gehen wollen wie Hoffnungsträger Jean-Michel Frédéric Macron, der nach seinem Wahlsieg in Frankreich zuerst die Europahymne spielen ließ und dann erst die Marseillaise?

In jedem Fall muss die EU aber ihre Bürger ernst nehmen, wenn diese sagen „Ihr kriegt nicht viel gebacken“, denn: „Es ist nicht alles in Ordnung“. So kommt es zum Beispiel in den brennenden Fragen zu Asylpolitik oder Sicherung der Außengrenzen durch die Verzögerungstaktik einzelner Staaten zum Stillstand, generell werden Erfolge gerne von den einzelnen Ländern gefeiert, während Misserfolge der EU angelastet werden. Jean-Claude Juncker selbst hat das einmal mit den Worten zusammengefasst: „Es gibt zu wenig Union in der Union.“ Da aber die Vorschläge von Rechts hier auch nicht zielführend erscheinen, versuchten die übrigen Europapolitiker, mit dem „Weißbuch“ gegenzusteuern. „Die Bürgerschaft einbeziehen und nicht nur die einschlägig vorbestraften aus dem Parlament“ war der Antrieb, „Bürgerbeteiligung, nicht Eliten-Projekt“ und eine breitbandige Behandlung der EU-Probleme.

Fünf Wege in die Zukunft

Mit der Vorlage des Weißbuches („Wege zur Wahrung der Einheit in der EU27“ am 1. März 2017 gibt es nun einen Katalog der „größten Herausforderungen & Chancen für Europa in den nächsten 10 Jahren.“ Fünf Szenarien skizzieren, wo die Union 2025 stehen könnte, je nachdem, welcher Kurs jetzt eingeschlagen wird – allerdings schließen sie sich auch nicht gegenseitig aus.

Szenario 1: Weiter so wie bisher. Das bedeutet eine engagierte Umsetzung bzw. Aktivierung der aktuellen Projekte aus der Erklärung von Bratislava und stellt einen ersten Schritt zu mehr Zusammenhalt dar, wird aber 2025 noch unter mangelnder Anstimmung der Staaten untereinander kränkeln.

Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt. Wenn die EU-Mitgliedsstaaten in immer mehr Bereichen der Politik auseinanderdriften, wird es mehr Regeln im Miteinander geben als heute, aus Gründen der Sicherheit vielleicht wieder Grenzkontrollen. Thomas Mann plädiert dafür, unbedingt die Arbeitnehmer-Freizügigkeiten beizubehalten und warnt davor, „Lügenkampagnen“ zum Opfer zu fallen, wie sie seiner Einschätzung nach zum „Brexit“ geführt haben. Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr. „Wir haben ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, daher ist die bislang geforderte Einstimmigkeit immer wieder ein Problem. Würde man stattdessen eine „Koalition der Willigen“ auf einzelnen Sachgebieten wie Datenvernetzung oder Steuergleichheit bilden, die den anderen Staaten vorausgehen, kämen wenigstens einige Staaten weiter. Allerdings sollte ein „Umsteigen zwischen ICE und Bummelzug“ jederzeit möglich sein und wichtige Ziele sollten weiter europaweit verfolgt werden: „Mindestens die organisierte Kriminalität muss europaweit einheitlich bekämpft werden.“

Szenario 4: Weniger, aber effizienter. Um vom Image der Bananenvermesser wegzukommen, werden Aufmerksamkeit und begrenzte Ressourcen auf ausgewählte Bereiche gerichtet. „Kleinkram“ können die Staaten einzeln beschließen, stattdessen arbeitet die Gemeinschaft am Aufstellen großer Regeln. Dazu könnten Grenzschutz, Kostenkontrolle, Terrorismusbekämpfung oder Sanktionen gegen Täuschung gehören.

Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln. Der Euro als zweitstärkste Währung der Welt, gemeinsame Zentralbank ... es geht doch. Warum also nicht mehr Kompetenzen auf europäischer Ebene bündeln? Vielleicht sogar auf schnellere Entscheidungen auf der EU-Ebene drängen? In jedem Fall bedeutet dies eine bessere Vertretung auf internationalen Foren. Es geht auch mit gezielten halben Schritten: Zur Verteidigung ist nicht unbedingt eine gemeinsame Armee erforderlich, wenn eine bessere Koordination zwischen den bestehenden Militärverbänden erreicht wird.

Keine Frage, es muss ein neues Europa aus dem bisherigen erwachsen, am besten mit mehr Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Ob es gelingt, kann auch Thomas Mann nicht versprechen, aber er will nach Kräften versuchen, dazu beizutragen: „Zum Beispiel hier“, denn die Bürger müssen natürlich mit ins Boot geholt werden, wenn es auf stürmischer See noch den sicheren Hafen Europa erreichen soll.



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