Hängt eine erpressbare EU in der Welt-Flüchtlingskrise ihren Migranten Preisschilder an?

„Ich bin selbst immer wieder hin- und hergerissen, wie ich zu den einzelnen Punkten stehe“, bekannte sich Prof. Dr. Arne Niemann zu den spannenden Prozessen der politischen Meinungsfindung und forderte das Auditorium im Offenen Treff zur Diskussion auf: „Seien Sie nicht schüchtern!“ Foto: Friedel

Schneidhain (hhf) – Trotz fußballerischer Konkurrenz freute sich Moderator Dr. Christian Lauer über einen reichlich gefüllten Saal im „Offenen Treff für jedermann“. Damit fand sich im evangelischen Gemeindehaus am Hohlberg auch gleich ein Gegenargument zu der im Jahresthema vermuteten heutigen EU-Lethargie nach der Europa-Euphorie der Gründerväter, und das, obwohl sogar der Referent zugestand, dass er so kurz vor der Wahl nun gegen eine Informationsflut ankämpfen müsse. Im Gegensatz zum Kurs der Medien wollte er daher nicht nur auf die negativen Seiten der „Migrations- und Flüchtlingspolitik der EU“ eingehen und auch diesbezügliche Missverständnisse aufklären.

Sein Wissen erwarb Prof. Dr. Arne Niemann an diversen Universitäten in Europa, wo er zunächst Politik und Wirtschaft studierte und nach der Promotion gut zehn Jahre arbeitete, bis er 2011 den Lehrstuhl für internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Johann-Gutenberg-Universität in Mainz angeboten bekam. Dort wurde er für drei Jahre in Form eines „Jean-Monnet-Lehrstuhls“ von der Europäischen Kommission gefördert, um sich europäischen Integrationsstudien widmen zu können.

Gut ausgestattet mit einer Sammlung aktueller Grafiken und Statistiken, rüttelte der Wissenschaftler zunächst am Missverständnis der „europäischen Flüchtlingskrise“, die es zwar auch gibt, die aber nur eingebettet in eine „Welt-Flüchtlingskrise“ zu sehen ist. Viele Menschen schaffen es auf der Flucht gerade mal über die Grenze ins Nachbarland, bis nach Europa kommt global gesehen nur ein kleiner Teil davon – deutlich mehr finden zum Beispiel in der Türkei, Pakistan, Nauru oder Jordanien Zuflucht. Gerade weltweit aber haben sich die Flüchtlingszahlen in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt, die UN rechnete 2015 mit rund 60 Millionen Menschen und vermutlich kräftiger Dunkelziffer dazu, da Migranten ohne gestellten Asylantrag kaum zu erfassen sind. Die Hauptursachen liegen im Klimawandel, Bürgerkriegen (unter anderem in Syrien, Libyen, Kolumbien), islamistischem Terror (zum Beispiel in Afghanistan oder im Herrschaftsgebiet der ISIS) und „fragilen, gescheiterten Staaten“ wie Somalia oder Sudan.

Gegenüber dem Libanon, das etwa 15 Mal so viele Flüchtlinge „pro Kopf“ aufgenommen hat, steht auch Deutschland sehr moderat da, wenn dies auch mancher politischen Gruppierung nicht passt, 1992 waren die „Zuzüge“ höher als 2014, die vermuteten Zahlen für 2015 und 2016 wurden längst nach unten korrigiert. „Vielleicht sind sie unerwartet schnell gekommen“, könnte sich Professor Niemann das Gefühl der Bevölkerung vorstellen, vielleicht hat sich Deutschland aber auch nur fairer verhalten als manch anderer EU-Mitgliedsstaat, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Hier muss an der uneinheitlichen EU-Gesetzgebung unbedingt noch nachgebessert werden, denn die plötzlich gestiegenen Flüchtlingszahlen haben vor allem deren Schwachstellen getroffen und damit offen gelegt.

Durchaus verständlich scheint aufgrund der Geografie, dass die „Frontstaaten“ Griechenland und Italien 2015 die Vereinbarungen von Dublin aussetzten, die besagen, dass ein Flüchtling seinen Asylantrag dort stellen muss, wo er zum ersten Mal seinen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hat. Als weitere überforderte Staaten Flüchtlinge einfach passieren lassen (und Ungarn den „berüchtigten Zaun“ baute), geriet das ohnehin „disfunktionale System etwas aus den Fugen“. Deutschland verzichtete zum Beispiel darauf, Menschen nach Dublin-Recht zurückzuschicken, stimmte aber auch der Einführung von Binnenkontrollen zu, die bald wohl verlängert werden: „Schengen ist ein bisschen am Bröckeln“.

Die eigentliche Krise ist also zum einen in den schlecht harmonisierenden Bestimmungen der 28 Mitgliedsstaaten der EU begründet, zum anderen in der schlechten Umsetzung dieser Mindeststandards. Immerhin hat Deutschland in Brüssel schon einiges aus seiner relativ guten Gesetzgebung einbringen können, doch wird ein höherer Standard sicher schwierig zu erreichen sein. Vorrangig ist vor allem, die Umverteilung der aufgenommenen Flüchtlinge intern besser zu regeln und auch die Umsetzung der bisher gültigen Reglements anzumahnen – von 160.000 Menschen sind seit zwei Jahren erst 27.000 weiter vermittelt worden. Sinnvoll wäre ein Schlüssel, der zum Beispiel Einwohnerzahl, Bruttoinlandsprodukt, aber auch Arbeitslosigkeit in den einzelnen Ländern berücksichtigt. Interessant auch der Vorschlag von der slowakischen Präsidentschaft: Im Rahmen einer „flexiblen Solidarität“ sollen Staaten, die wenig oder keine Flüchtlinge aufnehmen, die anderen mit Geld und Expertenwissen unterstützen. Allerdings hänge man damit gewissermaßen ein Preisschild an die Flüchtlinge.

Immerhin gibt es schon zwölf EU-Staaten, die eine Liste mit sicheren Herkunftsländern haben, daraus könnte eine einheitliche EU-Liste entstehen, auch sind für Syrien und Afrika EU-Treuhandfonds eingerichtet worden, um Migranten dort zu versorgen – freilich nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“. Dringend muss der Schutz der Außengrenzen verbessert und vereinheitlicht werden, erste Erfolge bei der Zerschlagung von Schleuser-Infrastruktur sollte da Mut zu mehr machen. Erst recht ist es notwendig, die Gesetze zu Anerkennung und Asylverfahren zu vereinheitlichen, die Asyl-Anerkennungsquoten schwanken derzeit zwischen 9 und 77 Prozent. Fraglich ist dagegen der bereits bestehende „Deal“ mit der Türkei, die derzeit viele Asylsuchende nicht nach Europa weiterleitet, denn die prinzipiell nicht schlechte Idee macht Europa auch erpressbar. Dennoch sind weitere bilaterale Abkommen eine vernünftige Idee für die Zukunft, wesentlich besser als die immer noch hohen Waffenexporte einiger EU-Länder.

Extern gilt es also, von Klimaschutz bis zur Mediation in politischen Krisen (was die „unbelastete“ EU bisher schon erfolgreicher als die USA geleistet hat) aktiv die Ursachen von Fluchtbewegungen zu bekämpfen. Intern vor allem aber muss die Flüchtlingspolitik ebenso wie die Einheitlichkeit der EU insgesamt besser abgestimmt und vorangetrieben werden, was bislang nur mäßig gelungen ist. „Meinung wird immer geprägt durch Überschriften“, deren Missbrauch ohne inhaltliche Informationen wirft Professor Dr. Arne Niemann der Boulevardpresse ebenso vor wie den Rechtspopulisten. Aber auch dem „Wir schaffen das“ der Bundesregierung hat die fehlende Erklärung, „wie“ gefehlt. Der wichtigste Ansatz zur Lösung der Krisen in der EU ist also, die Themen transparent zu machen und ausführlich zu argumentieren – bzw. argumentieren zu lassen.



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