„Ein Kunstwerk, das sich unter die Menschen begab“

Bei genauem Hinsehen oder durch ein Teleobjektiv erkennt man, dass das Schneidhainer Kruzifix in Schultern und Ellenbogen über hölzerne Gelenke verfügt. Foto: Friedel

Schneidhain (hhf) – Wenn im Bereich des Kirchenjahres von klapprigen Knochen die Rede ist, denkt der moderne Mensch automatisch an Halloween, den Abend vor Allerheiligen, an dem nach US-amerikanischer Überarbeitung Gruselgestalten ein Brauchtum mit heidnisch-keltischen Wurzeln pflegen. Klappbare Knochen hingegen haben direkt mit Ostern zu tun. In einer ebenfalls recht alten Liturgie nahm man nämlich seit der Zeit der Kreuzzüge das Kruzifix am Karfreitag vom Altar und bestattete es bis zum Sonnenaufgang am Ostermorgen in einem „Heiligen Grab“ in der Kirche. Zusammen mit der gegebenenfalls folgenden Prozession verdeutlichte dieses bildliche Geschehen das Osterwunder für die einfache Bevölkerung, die oft des Lesens unkundig war und auch kein Latein verstand, gewisse Parallelen zum heutigen Trend, Geschichte „erlebbar“ zu machen, sind aber sicherlich auch zu erkennen.

Um 1300 – die älteste Überlieferung stammt von 1340 – kamen „handelnde Bildwerke“ auf, was im Oster-Fall bedeutet, dass der Leib Christi am Karfreitag vom Kreuz genommen wurde und vermittels beweglicher Arme naturnah zu Grabe getragen werden konnte. Solch ein bewegliches Kruzifix ist in der katholischen Kirche von Schneidhain erhalten geblieben, Wolfgang Erdmann datierte es in einem Führungsblatt von 1996 auf die Zeit um 1500. Hinweise auf ein „Heiliges Grab“ – das freilich auch aus Tüchern bestehen konnte – finden sich zwar weder in dem erst nach dem 2. Weltkrieg errichteten katholischen Kirchenbau noch in der heute evangelischen Kirche, die früher „simultan“, also von beiden Konfessionen gemeinsam genutzt worden ist, dafür bietet sich ein anderer Ansatz für die Herkunft der Figur.

Im „Blauen Buch“ aus dem ortsansässigen Langewiesche Verlag über „Königstein im Taunus: Geschichte und Kunst“ wird zunächst der Hochaltar in St. Johannes Baptist (der Täufer) als alter „spanischer Feldaltar“ beschrieben und in die Zeit zwischen 1590 und 1620 eingeordnet. Der Feldaltar ist, um die Truppen begleiten zu können, ebenso zerlegbar wie der Corpus Christi in der Kreuzigungsgruppe auf dessen Spitze („Sprenggiebel“) und vermutlich in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges nach Schneidhain geraten, vielleicht aber auch erst über Umwege. Sicher ist sich die Fachwelt allerdings, dass er erst hier und in späterer Zeit umgearbeitet worden ist, wobei die Kreuzigungsgruppe neu hinzu kam. In Zeiten, in denen Klöster geschlossen oder katholische Kirchen von protestantischen Bilderstürmern geleert wurden, war der Handel mit gebrauchtem Kircheninventar üblich, so wie auch nach 1800 Ausrüstungsgegenstände der Kirche im Kapuzinerkloster ihren Weg zu St. Marien fanden.

Somit erklärt sich zunächst der Unterschied von rund 100 Jahren in den Datierungen von Altar und Kruzifix. Mit der Herkunft des in Schneidhain wohl nie zu Grabe getragenen Kruzifixes hat sich der verstorbene Historiker Wolfgang Erdmann intensiv beschäftigt, seine Ergebnisse hat Professor Winfried Hofmann im Buch „800 Jahre Kirche in Schneidhain“ zusammengefasst.

Anhand der Technik des Klapp-Mechanismus ließ sich das Kruzifix als eines italienischer Herkunft identifizieren, 14. oder 15. Jahrhundert. Gewisse Details wie Bart, Haare oder Anatomie des Bauches weisen auf eine „späte Entwicklungsphase spätgotischer Skulptur“ zwischen 1480 und 1510 hin, doch nicht nur das: „Nach Erdmann ist das Kruzifix kein besonders hervorragendes Kunstwerk, sondern eher künstlerischer Durchschnitt“, vielleicht sogar aus einer Serienproduktion für den Kunstmarkt. Damit rückt das Geschlecht der Eppsteiner, deren Linie Königstein-Eppstein damals (1418 – 1535) hier die Regentschaft innehatte, in den Mittelpunkt, sie waren Anhänger der „Devotio moderna“ und deren „tätiger Mystik“, wie übrigens auch die „Kugelherren“. Sicherlich könnten auch diese Stiftsherren das Klapp-Kruzifix mitgebracht haben, doch als Hauptverdächtiger bietet sich nach Lage der Indizien Eberhard IV. von Eppstein an, der nach dem Tode Eberhards III. die Ausstattung der von seinem Vorgänger erbauten Burgkapelle vervollständigte und als äußerst kunstsinnig galt. Die Burgherren in Eppstein hatten jedenfalls seit 1430/1440 ein „Heiliges Grab“ in ihrer Pfarrkirche, „und wenn die nächsten Verwandten so etwas haben, dann wollen es natürlich auch ...“

Einen eindeutigen Beweis gibt es zwar nicht, doch belegt ausgerechnet eine Inventarliste aus der lutherischen Zeit der Stolberger die Existenz eines „Heiligen Grabes“ auf der Burgkapelle zu Königstein, die unter Graf Ludwig „zu einer argen Rumpelkammer verkommen war und längst als Kanonenkugel- und Pulvermagazin“ genutzt wurde („ein Kleins gewelblin, darin man vortzeiten das grab in der Osternacht gehalten hadt...“). Von einem Kruzifix ist nicht die Rede, aber das mag ja auch unbewegt an der protestantischen Wand überdauert haben. Wolfgang Erdmann fand es jedenfalls wahrscheinlicher, dass der Corpus Christi während Umbaumaßnahmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Schneidhain gelangte, das damals ebenso wie Königstein unter Kurmainzer Herrschaft stand, die nach Kräften die Rekatholisierung betrieb.

Wie auch immer Altar und Kruzifix genau in die Johanniskirche gelangt sind, die Schneidhainer haben sich ihrer Findelkinder liebevoll angenommen: „Wir sind dankbar, dass wir sie besitzen und werden sie für nachfolgende Generationen erhalten“, verspricht Winfried Hofmann 2015 am Ende seines Artikels. Was er vermutlich damals noch nicht ahnen konnte ist, wie gut das gelingen sollte: In der aktuellen Ausgabe der fachlich sehr anspruchsvollen Zeitschrift „Monumente“ (Nr. 2/17), dem „Magazin für Denkmalkultur in Deutschland“, das die renommierte „Deutsche Stiftung Denkmalschutz“ herausgibt und im gesamten deutschsprachigen Raum verteilt, findet sich das „Kruzifix mit schwenkbaren Armen“ unter der Rubrik „Für Sie entdeckt“ mit nur einem weiteren Beispiel deutschlandweit (Neckarweihingen) wieder. Treffend ist der Beitrag mit „Christus bewegt“ überschrieben und liefert im weiteren Text, das sei hiermit eingestanden, auch den Titel unseres Leitartikels: Es sei in der Liturgie „ein Kunstwerk, das sich unter die Menschen begab“. Ein herzliches Dankeschön an Autorin Julia Ricker für ihren wunderbar formulierten Text – und auch für die touristisch nicht unwichtige Information, dass St. Johannes der Täufer, Waldhohlstraße 18, „in der Regel täglich von 9 – 17 Uhr geöffnet“ ist. Vielleicht also ein lohnendes Ziel für einen Osterspaziergang, der sich dann allerdings nicht nach Goethe an dem vom Eise befreiten Liederbach, sondern mehr an den Schienen der Eisenbahn orientieren müsste – aber Vorsicht, die Geleise sind nicht vom Bahnverkehr befreit, solche Kräfte entwickelt der Lenz zum Glück nicht, das schafft höchstens Väterchen Frost ab und zu. Oder die Gewerkschaft der Lokführer ...

Sehr hoch oben „thront“ die Kreuzigungsgruppe auf dem Sprenggiebel des spanischen Feldaltars.
Foto: Friedel

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