70 Jahre altes Grundgesetz in bester Verfassung

Der Staatsrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Dr. Udo di Fabio (links) mit dem Künstler Rolf Lukaschewski. Dazwischen Konrad Adenauer in ungewohnt farbenfroher Darstellung als Geschenk für die Stadt Königstein zum 70. Jubiläum des Grundgesetzes. Foto: Krüger

Königstein (sk) – Das 70jährige Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai dieses Jahres bietet ausreichend Anlass, einen genaueren Blick darauf zu werfen und zu hinterfragen, ob sich unsere Verfassung bewährt hat und den Anforderungen der Gegenwart und Zukunft noch gerecht werden kann. Hierzu organisierte der Rotary Club Bad Soden-Königstein mit Unterstützung der Stadt Königstein vergangene Woche im Haus der Begegnung eine Vortragsveranstaltung mit anschließendem Podiumsgespräch mit dem bekannten Verfassungsrechtler und ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Professor Dr. Dr. Udo di Fabio.

Stolz auf die Verfassung

Nicht nur der Weg zur Entstehung des Grundgesetzes sei eng mit dem Haus der Länder in der Villa Rothschild verknüpft. Auch der Rotary Club habe eine enge Bindung zu dem geschichtsträchtigen Haus, da sich dort der rotarische Freundeskreis wöchentlich zu Vorträgen und Gesprächen treffe, um sich aktiv für das Gemeinwohl im lokalen Umfeld und in internationalen humanitären Hilfsprojekten zu engagieren, erklärte der amtierende Präsident des Rotary Clubs, Professor Horst Franke. So sei es geradezu zwingend gewesen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob „wir stolz auf unsere Verfassung sein können oder sogar müssen“, erklärte der Präsident eingangs seiner Begrüßungsrede vor knapp 300 Gästen im Haus der Begegnung.

Jubiläumspräsent zum 70.

Auch Bürgermeister Leonhard Helm brachte seine Dankbarkeit darüber zum Ausdruck, dass Königstein einen Teil zum Prozess der Entstehung des Grundgesetzes beigetragen habe. Für ihn sei das Grundgesetz die Basis unserer Demokratie, die deutlich mehr Vorzüge als Defizite habe und die unbestreitbar mit gewissen Persönlichkeiten sehr eng verknüpft sei, wie vornehmlich Konrad Adenauer. Entgegen der häufig schwarz-weiß ausgeführten Fotos von ihm, überreichte der ehemals in Königstein lebende Künstler Rolf Lukaschewski sein Porträt von Adenauer in kraftstrotzender Farbenvielfalt der Stadt Königstein zum Geschenk. „Ich male den Menschen hinter dem Offensichtlichen“, erklärte der Künstler seine farbliche Akzentuierung. „Adenauer war keine unfarbige Gestalt, sondern ein eigenwilliger Fuchs mit rheinländischer Schläue“, übersetzte er die außergewöhnliche Strahlkraft seines Werkes.

Provisorium für die Ewigkeit

Prof. di Fabio begeisterte das Publikum mit seinem engagierten Vortrag über das gelungene Konzept unserer großartigen Verfassung, die seit 70 Jahren stabil sei, den Menschen klar in den Mittelpunkt stelle, ihm die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in aller Gleichheit vor dem Gesetz und eine sozialstaatliche Demokratie garantiere.

Er werde immer wieder gefragt, warum das Grundgesetz nicht Verfassung heiße: Weil dies 1949 die Manifestierung der deutschen Teilung bedeutet hätte. Damals lehnten die Ministerpräsidenten die Forderung der Alliierten ab, einen westdeutschen Staat unter Missachtung der Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone zu gründen. Als „Verfassung“ für Deutschland sollte erst eine in ganz Deutschland auf demokratischem Weg entstandene und legitimierte Konstitution bezeichnet werden. Das war der Grund für die Namensgebung „Grundgesetz“. Gleichzeitig erhielt das Grundgesetz einen zeitlich und räumlich provisorischen Charakter mit der Festschreibung des Wiedervereinigungsgebots in der ursprünglichen Präambel des Grundgesetzes.

Inhaltlich sei das Grundgesetz aber gar kein Provisorium gewesen, erklärte Prof. di Fabio. Vielmehr sei es aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur auf sehr weite Sicht – fast schon für die Ewigkeit – entworfen worden, was die gleichzeitige Aufnahme der Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG belege. Danach dürfen der Wesensgehalt der Grundrechte sowie die demokratischen Grundgedanken und die republikanisch-parlamentarische Staatsform selbst im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden.

Widerspruch oder Legitimation?

„Provisorium für die Ewigkeit“ sei widersprüchlich, lauten kritische Meinungen. „Aber genau so wollten die Väter und Mütter unser Grundgesetz“, begeisterte sich der Referent. Das Grundgesetz sollte „lernen können“. 1949 habe man bereits den Weg für die Wiedervereinigung vorgezeichnet und mit dem Beitritt der ostdeutschen Bürger*innen 1990 vollzogen. Vielfach werde behauptet, dass unser Grundgesetz keine Legitimation habe, da es der DDR nur „übergestülpt“ worden sei ohne eine neue, gesamtdeutsche Verfassung zu beschließen (vgl. Art. 146 GG) . Laut Prof. di Fabio bestand aber gar keine Notwendigkeit dafür, da die DDR-Bürger „mit überwältigender Mehrheit unter das Dach der westlichen Verfassung schlüpfen wollten“, was die aktuelle Präambel-Aussage „Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“ legitimiere.

Stabilitätsrückversicherung

Aus dem Scheitern der Weimarer Republik hatte der Parlamentarische Rat seine Lehren gezogen. Dazu gehörte u. a. die Stärkung der Grundrechte und die Aufwertung der Rolle des Kanzlers. Statt eines einfachen wurde deshalb das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum eingeführt (Art. 67 GG). Die Mütter und Väter des Grundgesetzes seien streitbar gewesen. Sie wollten vermeiden, dass die Demokratie erneut auf legalem Wege untergraben werden könne. Deshalb sahen sie ein Verfassungsgericht mit umfassenden Kompetenzen vor, dass das Recht als Grundlage der menschlichen Gesellschaft zum höchsten Prinzip erhebe und nicht parteipolitischen Interessen unterordne, erklärte Prof. di Fabio.

Verfassungspatriotismus

„Die Deutschen schätzen das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz“, so die Meinung des Verfassungsrechtlers. Das liege nicht zuletzt daran, dass es in den letzten 70 Jahren keine Instabilitäten gegeben habe. Früher habe man von Vaterlandsliebe gesprochen. Heute könne man von Verfassungspatriotismus sprechen, der nichts mit patriotischem Chauvinismus gemein habe. Vielmehr gehe es um Identifikation des Einzelnen mit den Grundwerten, den Institutionen und Verfahren der politischen Grundordnung und um die Annahme einer aktiven Staatsbürgerrolle sowie die Souveränität der Bürger, ihre Identität zu behaupten.

Zur Identität gehöre auch die Sprache als Kraftquelle der eigenen Kultur. „Wer daraus Überheblichkeit macht, der ist halt nicht so helle“, verteidigte der Staatsrechtler bissig die Grundwerte deutscher Kultur und erheiterte mit dieser Formulierung den Saal. Überhaupt habe eine weltoffene Demokratie in einem vereinten Europa zu den grundlegendsten Ideen und Wünschen der Verfassungsväter und -mütter gehört. In der Präambel stehe bereits, dass das deutsche Volk von dem Willen beseelt gewesen sei, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. „Das ist meine Lieblingsstelle im Grundgesetz“, bekannte di Fabio.

Wertekompass

Betrachte man aktuelle Themen wie Digitalisierung, Datenschutz, Regulierung des Netzes oder Politikverdrossenheit, also Themen, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes noch gar nicht kannten, stelle sich die Frage, ob unser Grundgesetz überhaupt noch zeitgemäß sei oder vielmehr modernisiert oder angepasst werden müsse. „Wir haben keinen Modernisierungsbedarf. Wir haben vielmehr einen Bildungsbedarf“, formulierte der Staatsrechtler seinen Bildungsappell. Denn die Verfassung gebe der Gesellschaft einen Kompass für ihre Entwicklung.

Und die gesellschaftliche Entwicklung passt sich der Verfassung an. Nicht die normativen Verfassungsgrundlagen müssten den Vorstellungen unserer Gesellschaft angepasst werden. Es sei quasi ein wechselbezüglicher Prozess, erklärte der Jurist. Wichtig sei, dass jeder Bürger die Grundlagen unserer Demokratie erst einmal verstehe, bevor er eine gesetzliche Modernisierung fordere. Man betrachte nur die Spaltungstendenzen in Frankreich oder Italien. Das Fehlen einer Identität werde dort zum kulturellen Problem. Die Menschen betrachteten sich nur noch als Individuen auf der Suche nach Selbstverwirklichung und sähen keinen Sinn darin, die Grundlagen der Demokratie zu schätzen und zu bewahren.

Aber auf die Demokratie und die verfassungsrechtlichen Regeln könne man sich verlassen, „selbst wenn die Welt mal ein bisschen aus den Fugen gerät“, erklärte der Staatsrechtler. Außerdem könne jeder Einzelne aktiv etwas dafür tun, beispielsweise stärker für Demokratie werben oder einfach dabei mitwirken, motivierte der Redner sein Publikum.

Die Verfassung mag auf den ersten Blick unmodern wirken, aber sie bietet weitsichtig allgemeinverbindliche Grundwerte für eine Vielzahl von Fällen. Will man sich mit Blick auf Europa auf ein System des gegenseitigen Verhandelns einlassen, dann brauche man einen verlässlichen Ordnungs- und Wertekompass, hielt Prof. di Fabio fest. Er ist davon überzeugt, dass dieser Kompass auch noch in den nächsten Jahrzehnten stabil bleibe und für die Anforderungen der kommenden Jahrzehnte bestens gewappnet sei.



X