Bahnfahrer machten ihrem Ärger Luft – Entspannung wohl erst 2023

Die Vertreter von RMV und HLB auf der rechten Seite, die kommunalen Vertreter auf der linken Foto: Puck

Kelkheim/Königstein (pu) – Zu den gewichtigsten Argumenten, die Bevölkerung zum Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu bewegen, zählt der Hinweis auf den aktiven Beitrag zum Klimaschutz.

So weit so gut, doch, dass diesem notwendigen Umdenkprozess in der Gesellschaft samt Umsetzung von der Theorie in die Praxis die Erledigung etlicher Hausaufgaben von Bund, Land und Kommunen vorausgehen muss, wurde im Verlauf einer Podiumsdiskussion im Plenarsaal des Kelkheimer Rathauses mehr als offenkundig. Im Mittelpunkt der vom örtlichen Parlament beschlossenen Veranstaltung stand die unsägliche Situation der regelmäßig überfüllten Linie Regionalbahn (RB) 12 Königstein- Frankfurt-Höchst. Nicht selten müssen schon in Kelkheim-Mitte Fahrgäste stehen, in Liederbach kann teils niemand mehr zusteigen.

Schnauze voll

Unter den Nägeln der über 200 Interessierten, die der Einladung gefolgt waren, brannten zahlreiche Fragen. Kaum hatte Heike Vieth, Bereichsleiterin Qualitätsmanagement und investive Förderung des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV), aktuelle Zahlen vorgelegt, wonach die Pünktlichkeit der RB 12 zwischen Januar 2019 und Januar 2020 lediglich vier Monate „unter der Akzeptanz“ gewesen sei, was sie als „sehr gute Qualität“ bezeichnete, erntete sie höhnisches Gelächter. Wenig Verständnis auch für ihre Aussage, wonach in erster Linie Witterung, Fahrzeugstörungen, Personalausfälle und Bauarbeiten für Verspätungen oder Ausfälle (allein im August 100) ursächlich waren und im Übrigen ein eingerichteter Ersatzbusverkehr (E 12) „noch nicht genutzt wird“. „Die Leute haben die Schnauze voll!“, brachte ein Bahnkunde die Gefühlslage des Großteils der Anwesenden auf den Punkt. Die Gründe sind offenkundig vielfältiger Natur, der Betroffene schilderte als eines von zahlreichen Beispielen, nach einer Sperrung der Bahnstrecke nach umgefallenem Baum sei der Ersatzbus „mit über einer Stunde Verspätung angetanzt!“ Nicht nur seiner Meinung nach ein Unding.

Diverse Maßnahmen angestrengt

Kai Daubertshäuser, Leiter des Geschäftsbereichs Vergabe-, Qualitäts- und Infrastrukturmanagement beim RMV, versuchte, die Gemüter zu beruhigen. Nach seinen Worten sind im letzten Jahr „diverse Maßnahmen angestrengt worden.“ Für den Ersatzbus-Verkehr, einer „guten Möglichkeit, die Kapazität langfristig zu erhöhen“, müsse man sicherlich mehr Werbung machen, des Weiteren wolle man dafür Sorge tragen, dass es künftig Ansagen gibt zur besseren Orientierung der Bürger*innen. In puncto Personal und Fahrzeuge gelte es dagegen deutlich zu differenzieren. Während man in Sachen Personal dran sei, zur Entspannung der prekären Lage beispielsweise durch Ausbildungen Personal heranzuführen, könne man hinsichtlich der Pünktlichkeit keine Wunderdinge erwarten. „Es ist utopisch zu glauben, wir könnten 99 Prozent Zuverlässigkeit erreichen!“ Einer der Gründe unter anderem die signifikante Abhängigkeit von den anderen Strecken. Gäbe es dort Verspätungen, wirke sich das logischerweise auch auf die RB 12 aus.

Weitere Fragen prasselten vor allem auf die Podiumsteilnehmer von RMV und Hessischer Landesbahn (HLB) nieder. „Warum muss es eine 1. Klasse geben?“, so die provokante Erkundigung einer Zuhörerin, die darauf anspielte, dass es häufig freie Plätze in der 1. Klasse gebe, während man, wie ein anderer Kunde einwarf, „die Menschen in den anderen Abteilungen wie die Ölsardinen stopft.“ Laut Daubertshäuser muss das Angebot der 1. Klasse aufrechterhalten bleiben, allerdings „gibt es in einer voll besetzten Bahn die Möglichkeit, die 1. Klasse freizugeben!“ Auf den Hinweis, das Zugbegleitpersonal wisse davon offensichtlich nichts, versprach er Abhilfe.

Realitätsferne Pläne

Weitere an diesem Abend vielfach angesprochene Probleme neben der mangelhaften Informationspolitik nichtherausfahrbare Trittbretter und Türen, die nicht benutzbar sind. „Ich musste letzte Woche bis nach Kelkheim-Hornau fahren, weil ich in Kelkheim nicht rauskam“, verschaffte eine saure Kundin ihrem Ärger Luft. Überdies attestierte das entrüstete Publikum RMV und HLB realitätsferne Pläne, sei es bei der Entscheidung, zu Schulferienbeginn stets nur einen Zug fahren zu lassen, obwohl bekannt sein müsste, dass gleichzeitig Schüler*innen aus drei weiterführenden Schulen nach Hause drängen, oder bei der Zukunftsplanung. „Wie lange dauert es eigentlich, bis Sie sich der Realität anpassen?“, warf ein Bahnfahrer in den Raum, nachdem er zuvor aus den Reihen des Podiums vernommen hatte, die Planung der aktuellen Fahrzeugflotte, darunter über 30 Jahre alte Züge, samt Kapazitätsberechnungen stamme aus dem Jahr 2004.

„Es stimmt, während wir noch vor fünf, sechs Jahren alles mit nur einem Zug bewältigten, haben wir mittlerweile seit zwei bis drei Jahren erhöhte Nachfrage“, räumte Peter Runge, Prokurist der Hessischen Landesbahn, ein. Allem inzwischen bekannten Anstoßen an die Kapazitätsgrenzen zum Trotz, kämpfe man mit dem Problem der „momentan begrenzten Anzahl der Fahrzeuge“, teils aus Altersgründen („am Ende ihrer Nutzbarkeit“), teils mangels Verfügbarkeit. Deshalb könne man bei Engpässen auch nicht flexibel reagieren, weder wochentags, noch am Wochenende.„Keine Frage, insgesamt müssen wir im ÖPNV-Bereich sehr viel machen!“

Toaster und Gefrierschrank

Die Hoffnungen von RMV und HLB ruhen, wie im Verlauf des Abends publiziert wurde, auf den für Ende 2022 erwarteten Start der Ära der im letzten Jahr bestellten emissionsarmen wasserstoffbetriebenen Fahrzeuge, zwischen deren Bestellung und Lieferung jedoch 36 bis 48 Monate liegen. Nach bisherigen Berechnungen versprechen sich die Fachleute einen Fahrgast-Kapazitätsgewinn von 30 bis 40 Prozent. Solange müsse man laut Runge „die Situation nach bestem Wissen und Gewissen aufrechterhalten“. Im Klartext heißt das, wie die anwesende Bahnkundschaft bemängelte, weiterhin mit beengten Verhältnissen leben, in Zügen, die „im Sommer Toaster, im Winter Gefrierschrank“ sind.

Hochmoderne Flotte ab Ende 2022

Die wasserstoffbetriebenen Fahrzeuge können dann, laut Jochen Fink, Prokurist der HLB Hessenbahn GmbH, auch die für die Genauigkeit der dynamischen Fahrgastinformations-Systeme erforderlichen Echtzeitdaten liefern, was momentan keiner der Züge kann, wie Königsteins ÖPNV-Dezernent, der ehrenamtliche Stadtrat Rolf Kerger (Bündnis90/Die Grünen), verärgert kritisierte. Stattdessen erhalte man als Zugreisender aktuell teils abenteuerliche Informationen, wie er am Vortag der Podiumsdiskussion selbst erlebt habe.

Ingenieure gefragt

Königsteins Bürgermeister Leonhard Helm (CDU) zeigte sich verärgert, weil die Entscheidungsträger der Bahn vor Bestellung der neuen Fahrzeuge nicht den Kontakt zu seiner Kommune, immerhin Endhaltepunkt, gesucht hätten. „Wir sind vor der Ausschreibung gar nicht gefragt worden, unter Umständen wäre hinsichtlich der Optimalität mehr machbar gewesen“, legte er dar. Offenbar habe man weder daran gedacht noch alternativ an eineinhalb- oder zweigeschossige Waggons. Ganz abgesehen davon, dass es im „Land der Dichter und Denker auch jede Menge Ingenieure gibt, die technische Lösungsvorschläge rund um den ÖPNV erarbeiten könnten.“ Als Beispiel nannte er automatische Rampen oder Kühlsysteme in den Bahnhöfen. Insgesamt sei das Gebot der Stunde einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, „über den Tellerrand zu blicken, sonst kriegen wir die Probleme nicht gelöst.“ Vor diesem Hintergrund warf er eine direkte Fahrradverbindung von Königstein nach Kelkheim in die Diskussion. Seine Liederbacher Amtskollegin Eva Söllner (CDU) lenkte den Blick auf zwei andere Aspekte: „Wir müssen mit der Realität umgehen! Aktuell läuft einerseits eine Machbarkeitsstudie zum Thema zweigleisige Trassenführung, die zwingend notwendig wäre für eine Erhöhung der Taktung von 30 auf 15 Minuten. Zur Umsetzung der Zweigleisigkeit werden andererseits allerdings Grundstücke benötigt, und da hakt es teilweise wegen Einsprüchen von Bürgern.“ Wie an diesem Abend überdeutlich wurde, spielt der Ausbau der Infrastruktur eine erhebliche Rolle. „Nicht alles, was wir uns im Nahverkehrsplan auf die Fahne schreiben, bekommen wir. Wir wurden teils selbst von Bund und Land blockiert“, hielt Kai Daubertshäuser, Leiter des Geschäftsbereichs Vergabe-, Qualitäts- und Infrastrukturmanagement beim RMV, allen, die allein RMV und HLB den schwarzen Peter zuschieben wollten, entgegen. Rückendeckung erhielt er von Peter Runge, Prokurist der Hessischen Landesbahn: „Wir als Unternehmen sind davon ausgegangen, dass die Fahrzeugflotte schon 2014 ersetzt wird, aber dann wurde alles nach hinten geschoben!“

Nach knapp drei Stunden endete eine Diskussion, in deren Verlauf viele Probleme zur Sprache kamen. Genannt wurden beispielsweise noch fehlende Fahrradplätze, der mit spöttischem Gelächter begleitete Versuch, durch Wärmeschutzfolien an den Fenstern den Aufenthalt an kalten und heißen Tagen erträglicher zu machen oder unter Umständen schon jetzt überholte Zukunftspläne. Kelkheims Bürgermeister Albrecht Kündigers (UKW) Fazit: „Im ÖPNV ist man mindestens noch 40 bis 50 Jahre zurück!“ Er dankte allen Erschienenen für ihr Kommen und die sachliche Diskussion und bat: „Bleiben Sie dran, schicken Sie uns Ihre Eingaben!“

Solidarität

Seine Liederbacher Kollegin warb für weiterhin fairen Umgang miteinander und Verständnis füreinander, dem RMV und HLB seien teils ebenfalls die Hände gebunden, einige der „größten Dinge momentan nicht zu lösen.“ „Wir sind an der Basis, das kleinste Rädchen im Getriebe“, machte sie deutlich. Solidarität, wie teilweise schon unter den Zugpassagieren praktiziert, sei angesagt. „Bitte halten Sie durch bis 2022!“



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