Die Ortsgemeinde bleibt verlässlicher institutioneller Rahmen für die evangelische Volkskirche

Schneidhain
(kw) – Die „Zukunft der Evangelischen Volkskirche“ stand als letztes Thema des Offenen Treffs vor der Sommerpause auf dem Programm. Katharina Stoodt-Neuschäfer, Gemeindepfarrerin der Immanuel-Gemeinde Königstein, war als Referentin gewonnen worden, und die engagierte Theologin ging sogleich in medias res, indem sie zu Beginn ihres Vortrags erklärte, die „Zukunft der christlichen Volkskirchen“ unter Bezugnahme auf die gegenwärtige Situation einer sogenannten Parochie anhand der eigenen Gemeinde, Zukunftsperspektiven volkschristlicher Strukturen und Handlungsmöglichkeiten unter praktischen und theoretischen Aspekten in den Blick nehmen zu wollen.

Theorie und konkrete Beispiele

„Was verstehen wir unter Volkskirche? Beschreibt der Begriff lediglich eine bestimmte – möglicherweise vergangene – Sozialgestalt evangelischer Kirche? Oder zielt er auf die Erfassung und Charakterisierung eines spezifischen Verhaltens der Kirchenmitglieder ab?“, fragte die Referentin ins Rund des Auditoriums. Und weiter: „Könnte mit dem Begriff ‚Volkskirche‘ nicht auch so etwas wie eine Leitvorstellung gemeint sein, also ein kirchentheoretisches Konzept, welches in den zurückliegenden 50 Jahren seine Orientierungskraft keineswegs verloren hat?“

Mit der Beantwortung dieser grundsätzlichen Fragen spannte die Pfarrerin die Zuhörerschaft zunächst noch auf die Folter. Sie wolle zuvor in einem ersten Schritt konkrete Beispiele aus dem Alltag ihrer Ortsgemeinde aufzeigen, an denen typische Kennzeichen evangelisch-volkskirchlichen Handelns festgemacht und dargestellt werden könnten. Als Beispiel für typisches evangelisch-volkskirchliches Handeln wies Katharina Stoodt-Neuschäfer die Teilnahme ihrer Ortsgemeinde am Königsteiner Volksfest aus, das alle zwei Jahre auf dem Kapuzinerplatz ablaufe und bei deren diesjähriger Ausgabe auch wieder der „ökumenische Kaffee- und Kuchenstand“ zum Angebot gezählt habe. „Der Stand wird von den beiden großen Kirchengemeinden in der Kernstadt, also der evangelischen Immanuel-Gemeinde, dem kernstädtischen Teil der katholischen Gemeinde Maria Himmelfahrt im Taunus sowie dem Verein „Bürger helfen Bürger“ betrieben.“

Persönliche Beziehungen als Gerüst

Dank der stabilen persönlichen Beziehungen zwischen denen, die die konkrete Arbeit planen und durchführen, hätten auch diesmal wieder ein Anruf und wenige E-Mails gereicht, um die nötigen Vorbereitungen unbürokratisch und schnell abzuhandeln. „Der gemeinsame Kuchenstand wurde paritätisch mit Kuchenspenden ausgestattet und die Konfirmanden sorgten mit einigen Ehrenamtlichen für den Verkauf, für Transport und Nachschub sowie für das Heranschaffen des Geschirrs.“

Mit von der Partie – und das zum dritten Mal – sei auch wieder der Freundeskreis Asyl mit seinem Stand gewesen. Hier hätten sich neben Flüchtlingen – unter ihnen Muslime sunnitischer und schiitischer Prägung – auch getaufte Christen eingefunden. Der Freundeskreis sei mittlerweile seit sechs Jahren in der Integrationsarbeit tätig und werde seit Langem wesentlich von einer der Kirchenvorsteherinnen der Immanuel-Gemeinde organisiert; sie koordiniere auch die vielfältigen Angebote des Freundeskreises, erklärte die Pfarrerin, um im gleichen Atemzug auf die Beerdigung und Trauerfeier für eine Bewohnerin des Hauses Camille – der Einrichtung des Vereins Calla, der sich um Frauen mit Suchtproblemen kümmere – zu sprechen zu kommen. Katharina Stoodt-Neuschäfer zufolge war die Frau mittleren Alters in Königstein nicht gemeldet, aber offensichtlich evangelisch gewesen. Die Immanuel-Gemeinde habe gerne die Beerdigung übernommen; zum Trauergottesdienst sei ein kleiner Kreis an Frauen aus dem Haus Camille zusammengekommen. Die Musik, die auf Wunsch der Verstorbenen während des Gottesdienstes gespielt worden sei, habe mit Songs wie Chris Browns Partykracher „Beautiful People“ im krassen Gegensatz zum eher traurigen Anlass gestanden; aber die Frau habe es sich so gewünscht.

Ungetaufte im Religionsunterricht

Das dritte Beispiel alltäglichen volkskirchlichen Handelns entlehnte die Pfarrerin dem Religionsunterricht an einer Königsteiner Schule. Unter den 26 Schülern sind zwei sunnitische Muslime, ein christlich-orthodoxes Mädchen aus Mazedonien und mehrere Ungetaufte. „Die Eltern dieser Kinder meinten, es könne ihrem Kind nicht schaden, etwas von der deutschen Kultur kennenzulernen, und sie haben damit den ausdrücklichen Wunsch verbunden, dass ihre Kinder auch mit ihren anderen Freunden zusammenbleiben und nicht in die zusammengewürfelte Ethikgruppe gehen.“

Als allen drei Situationen aus dem Alltag der Königsteiner Ortsgemeinde gemeinsames volkskirchliches Element bezeichnete die Theologin die grundsätzlich abgrenzungsfreie Offenheit im Blick auf Menschen, mit denen gemeinsam im Sinne der christlichen Religion gefeiert, nachgedacht, getrauert oder gelernt wird. Der Zugang zu einem solchen gemeinsamen Handeln ist Katharina Stoodt-Neuschäfer zufolge wenig reglementiert. „Wer kommt, macht mit, ob beim Volksfest, bei den kirchlichen Amtshandlungen oder auch im Religionsunterricht.“

Christentum der Tat

Inhaltlich äußert sich den Ausführungen von Katharina Stoodt-Neuschäfer nach das Evangelisch-Volkskirchliche auf ganz unterschiedliche Weise. Gebackener Kuchen sei sicher nicht besonders evangelisch; in ökumenischer Gemeinschaft Kuchenspenden für einen guten Zweck zu organisieren hingegen sei Ausdruck eines Christentums der Tat, dem sich viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche verpflichtet fühlen würden. Volkskirchlich sein bedeute, nicht die Motivation zu erfragen und zu beurteilen, sondern im Miteinander einen – sicher etwas vagen – Begriff mit Leben zu füllen.

„Mit der Traurigen trauern, das heißt: in ihrer Sprache, ihrem Symbolsystem, ihrer Musik keine theologische Zensur zu üben und gleichzeitig dem nachzuspüren, was da zum Ausdruck kommt, wenn eine nach langer Drogenkarriere tödlich erkrankte Frau als Lieblingslied jenes „Beautiful People“ hört, in dem es um Schönheit geht, die einem kein Mensch absprechen kann, womit sie bekundet, dass sie ein Bewusstsein ihrer Würde bewahrt hat.“

Und auch im Religionsunterricht, der von seinem Konzept explizit konfessionsgebunden sei und sich um die Grundlegung einer evangelischen Identität zu kümmern habe, würden die Kinder miteinander und voneinander lernen. Das Evangelische sei dabei nicht das einzig Mögliche, das einzig Erlaubte und das einzig Richtige.

Typisch volkskirchlich

Als „typisch volkskirchlich“ benannte die Pfarrerin den allen drei Beispielen gemeinsamen institutionellen Rahmen, nämlich – hinsichtlich
des Zusammenlebens in einem überschaubaren sozialen Gefüge – der auf die Königsteiner Kernstadt bezogenen evangelischen Ortsgemeinde, also der sogenannten Parochie (dieser Begriff bezeichnet schon seit dem frühen Mittelalter die auf ein bestimmtes Territorium begrenzte kirchliche Gemeinde).

Auch wenn die Gemeinde ein Partnerschaftsprojekt in Afrika betreibe, sich mit anderen Kirchengemeinden in Nah und Fern verbunden fühle, oder – wie im Königsteiner Fall – eine „Hochzeitskirche“ besitze, die Brautpaare aus allen vier Himmelsrichtungen anlocke; das Hauptaugenmerk gelte dem evangelischen Leben in der Burgstadt.

Die Begrenzung auf die Ortsgemeinde sei kein Nachteil; vielmehr schöpfe die Ortsgemeinde eine nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Kraft aus der Begrenzung; ebenso mindere der parochiale Resonanzraum nicht die Aktivitäten, sondern verleihe ihnen etwas Unverwechselbares, Ortstypisches. „Die volkskirchliche Parochie ist wie der berühmte Blumentopf, den die Pflanze braucht, um Halt zu haben, zu wachsen und zu gedeihen“, so die Pfarrerin.

Konkrete Personen als Ansprechpartner

Charakteristisch für die evangelische Volkskirche ist der Gemeindepfarrerin zufolge, dass dem Raum bestimmte konkrete Personen zugeordnet sind. Pfarrer, Kantorin, Sekretärin, Küster, Gemeindepädagoge, die Leiterin der Sozialstation oder des Kindergartens mit ihren Kolleginnen – sie alle repräsentieren ihre Ortskirchengemeinde, nicht das „Evangelische“ schlechthin, sondern die evangelische Kirche vor Ort: „Sie geben der Gemeinde ihr Gesicht.“ Sie böten verlässliche, dauerhafte und im besten Sinne vertrauenstiftende Beziehungen an, seien als Ansprechpartner da, oft auch ohne Termin, sehr oft einfach „auf der Straße“ zum kurzen Gespräch oder zu einer Verabredung bereit. In ihnen sei ‚die Kirche‘ „präsent“, betonte die Gemeindepfarrerin, die in ihrem Exkurs bezüglich der Geschichte des Begriffs „Volkskirche“ zu dem Ergebnis gelangte, dass dieser auch heute noch als programmatischer Begriff verstanden werden könne. Er umreiße die Leitvorstellung von einer evangelischen Kirche, die „Kirche für die Religiosität der Menschen“ sei, offen für die Menschen, deren Lebenswelt sie teile, einladend und undogmatisch, aber inhaltlich auf die Vermittlung der Botschaft des Evangeliums ausgerichtet – und zwar mit dem Ziel, die Kirche selbst religionsfähig zu halten und ihre Mitglieder religionsmündig zu machen. Die evangelische Immanuel-Gemeinde verstehe sich in diesem Sinne als Institution zur religiösen Pflege, Deutung und Erweiterung der Lebenswelt in Königstein.

Volkskirchliche Parochie hat Zukunft

Hat die evangelische volkskirchliche Parochie eine Zukunft? – Pfarrerin Katharina Stoodt-Neuschäfer zufolge ja; die Immanuel-Kirchengemeinde sei nach wie vor eine volkskirchliche Ortskirchengemeinde. Die materielle Basis für die wichtigen Aufgaben, die die Gemeinde wahrnehme (Seelsorge, Unterricht, Gottesdienst, Diakonie), schrumpfe zwar, auch mache sich der Rückgang bei der Kirchensteuer bemerkbar, weshalb sich die Kirche sicherlich aus einigen ihrer Arbeitsfelder zurückziehen müsse, was nicht ohne Auseinandersetzungen abgehen werde.

Dennoch bleibe die volkskirchliche Parochie die einzige institutionelle Form, in der die evangelische Kirche dauerhaft und nah das bieten könne, was sie wolle: Religiöse Lebensdeutung, Ermutigung, Gemeinschaftsbildung, Pflege und Erweiterung der Lebenswelt. An der Parochie festzuhalten bedeute aber zugleich auch, das Gemeindepfarramt aufrechtzuerhalten. Die finanziellen Ressourcen müssten weiter darauf hin konzentriert bleiben, dass jede Gemeinde auch einen Pfarrer oder eine Pfarrerin habe.

„Parochie, als Netzwerk verstanden, erweist sich als ein äußerst lebendiger Organismus“, so die Referentin. Die Hauptamtlichen seien im Geflecht des Netzwerks zwar wichtige Knotenpunkte; sie würden aber nicht die Parochie ausmachen. „Der netzwerkanalytische Blick nimmt jeden mit, der getauft und Mitglied in der Ortsgemeinde ist.“ Dabei lenke er den Blick auf unzählige fein gesponnene Verbindungen, die selten wahrgenommen, aber als Ganzes Kirche ausmachen würden. „Der Blick offenbart Stärken, die bisher nicht bewusst waren.“ Auch in dieser neuen Sicht auf Kirche bilde die volkskirchliche Parochie den verlässlichen institutionellen Rahmen. (dw)



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