Wulffs Weckruf für Deutschland

Christian Wulff kam mit seinem Plädoyer für eine offene Gesellschaft im Schlosshotel gut an. Foto: Sura

Kronberg (aks) – Der ehemalige Bundespräsident, Christian Wulff, war ins Schlosshotel gekommen, um aus seinem Buch „Ganz oben ganz unten“ kurze Auszüge zu lesen, das er vor drei Jahren zu seinem Freispruch in der sogenannten „Wulff-Affäre“ geschrieben hatte, und um über die aktuelle Lage der Nation zu sprechen. Sein Rücktritt als Bundespräsident 2012 stand mit der Anklage der Vorteilsannahme und -gewährung in Zusammenhang. „Ich habe mich der deutschen Rechtsprechung gestellt und das Urteil war an Deutlichkeit nicht zu überbieten“, das stellt der Rechtsanwalt gleich zu Anfang seines freien Vortrags klar. Am eigenen Leib habe er viel Häme erlebt und sei froh, sich politisch ungebunden wieder der Zukunft zuwenden zu können. Was folgt ist ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Deutschland der Vielfältigkeit. Dafür sei Demokratie die Basis und die sehe er in Gefahr: „Es klingelt nicht und dann ist die Demokratie verschwunden!“ Demokratie könne auch in einem aufgeklärten Land wie Deutschland einfach abhanden kommen, ohne Vorwarnung. „Helfen können wir uns nur selbst“, das bedeute, sich für ein Land einzusetzen, sich eine Meinung zu bilden und vor allem zur Wahlurne zu gehen.

Noch unter dem Eindruck der Sicherheitskonferenz in München, in der viele Länder pro domo gesprochen haben, aber niemandem zugehört haben, ist er über den Zeitgeist und die aktuelle Lage der Weltpolitik entsetzt. Er spürt den „wind of change“, den die Scorpions schon in den 90er-Jahren besangen und der bereite ihm größtes Unbehagen. Es sei höchste Zeit für einen „wake-up-call“ gegen Nationalismus, gegen Angst und Hass. Jedes Land habe Angst und verteidige damit die Haltung des „Wir zuerst – dann die anderen“. Und er meint nicht nur die Türkei, die USA und Russland – die nächsten Wahlen stehen in Frankreich und Holland an und dort gehören Rechtspopulisten zu den Favoriten. „Unser Modell ist unter Druck“. Der Westen mit seinen Werten und einer offenen Gesellschaft stehe auf dem Spiel: Unsere geschätzte und bewährte Demokratie, unsere liberale Gesellschaft und der Respekt vor Minderheiten seien in Gefahr. „Die Aushöhlung der Mindeststandards findet bereits statt“, damit meint spielt Wulff auf die Meinungsfreiheit und den Umgang weltweit mit Journalisten an. Da Geschichte sich nie wiederhole, könnten die jungen Leute zwischen 20 und 30 Jahren gar nichts anderes kennen als Wohlstand und Frieden. Wulff ruft ihnen zu: Informiert Euch! Die Älteren, die für den Wiederaufbau, für Wohlstand und die Sicherheit gekämpft haben, sollten ihre Geschichte mitteilen. Die Jugend dürfe sich nicht in einem wachsenden Egoismus verlieren. Es gebe keine Gewissheit, dass es Deutschland weiter gut geht, wenn sich keiner darum kümmert. Pflichten, Verantwortung und Lösungen müssten eingehalten werden, das Engagement der Jugend sei essenziell – „die Jugend ist unsere Zukunft!“. Desinteresse und Politikmüdigkeit, nicht nur der jungen Generation, könnten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sehr schnell abschaffen.

Dabei sei die deutsche Erfolgs-Geschichte geprägt von Einwanderung und Vielfalt. Er empfiehlt „Erinnerungen an Deutschland“, das beste Buch über Deutschland, das von Neil MacGregor, einem Engländer, geschrieben wurde: „Wir leben in einem Land, um das uns viele beneiden und wir sind die Profiteure von Europa. Wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht“, so Wulffs Credo – auch wenn man vieles besser machen könnte. Die Menschen brauchen Zutrauen und nicht Misstrauen, das von vielen Populisten geschürt werde.

Klare Ansagen auch in der Flüchtlingspolitik: Im Umgang mit den Geflüchteten gehe es vor allem um das Ansehen eines humanitären – christlichen – Europas. Da ist er ganz bei Angela Merkel und stimmt ihr zu: „Wenn 500 Millionen Europäer 3 bis 4 Millionen Flüchtlinge in ihren Ländern aufnehmen, ist das doch wohl zu schaffen“. Aber, und da zitiert er Gauck, „auch wenn die Herzen weit sind, sind doch die Möglichkeiten begrenzt“. Kontrollierte Aufnahme von Asylbewerbern ja, unkontrollierte Einreise nein. Grenzen in Europa seien allerdings nicht hilfreich, denn als Exportüberschuss-Weltmeister bräuchten wir den internationalen – grenzenlosen - Handel! Ebenso selbstverständlich ist für ihn, dass unsere deutsche Leitkultur – „mit der wir uns immer noch schwer tun“ - und unsere Gesetze respektiert und eingehalten werden. So würden Migranten zu einer Bereicherung, denn schon jetzt hat die Wirtschaft Probleme mit dem Nachwuchs. „Wir verabschieden Menschen aus dem Arbeitsprozess, ohne dass jüngere Arbeitskräfte nachkommen.“ Der 45-minütige Vortrag streifte viele brisante Themen und Wulff gab zu vielen Fragen klare Antworten. Der Grund für die Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung macht er an drei Dingen fest: die Globalisierung, die sich den Vorwurf der Ungerechtigkeit gefallen lassen müsse, die Digitalisierung mit Fake-News, Hasstiraden bis hin zur Anwerbung von IS-Kämpfern im Internet und die Vielfalt, die mit einer wachsenden Weltbevölkerung von fast 8 Milliarden Menschen zunimmt. Die Verwirrung wachse, viele fänden sich nicht mehr zurecht und so gehe allmählich das Vertrauen verloren: in sich selbst, in Wissen und Bildung sowie gegenüber allem Fremden. Werte wie Heimat und Orientierung würden seiner Meinung nach unterschätzt. Nur eine klare Haltung könne uns da weiterhelfen. Unterschiedliche Menschen an einem Tisch bräuchten eine „Tischordnung“, Zuwanderer in unserem Land bräuchten „Law&Order“: unsere Verfassung sei die zwingende Voraussetzung für ein funktionierendes vertrauensvolles Zusammenleben. So ginge es auch Jogi Löw mit seinen Jungs: Entscheidend ist, dass alle sich an die Regeln halten und gut Fußball spielen – egal aus welchem Land jeder einzelne Spieler kommt.

Wulff insistiert: „Wir profitieren von der Vielfalt, Einwanderung ist Innovation“. Laut Bertelsmann-Stiftung befürworten 90 Prozent der Muslime in Deutschland die Demokratie. Und so ist auch seine Aussage gemeint, der Islam gehöre zu Deutschland, die ihm viele Anfeindungen einbrachte. Die Zugehörigkeit zu Deutschland sei nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt.

Christian Wulff erntet vom Publikum keinen Widerspruch, als er behauptet: „Wir sitzen alle in einem Boot – es geht uns gut, wenn alle gewinnen“. Er setzt sich ein für den Dialog der Kulturen. Seiner Meinung nach vergifteten Autoren wie Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlands), Samuel Huntington (Der Kampf der Kulturen) oder Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab) die Stimmung ebenso wie die Thesen Houellebecqs und Sloterdijks, die den Selbstmord und die Überrollung Europas herbeizureden scheinen. Statt Kulturpessimismus sollten wir lieber die Probleme angehen, statt einen Wandel herbeizuunken, sollten wir uns für Demokratie und Gerechtigkeit einsetzen.

Wulff , der gestern noch in Hamburg war und morgen in Magdedeburg seinen Vortrag halten wird – „Das wird schwierig“ – steht vor dem Kronberger Publikum als „Überzeugungstäter“, wie er sich selbst nennt – und das glaubt man ihm auch. Dieser Mann hat Charisma und das Talent, Menschen für sich einzunehmen. Wie leichtfertig Demokratie von manchen aufs Spiel gesetzt werde und wie schnell es mit Sicherheit und Wohlstand vorbei sein könne, wenn sich nur noch wenige engagieren, das hat Christian Wulff eindrücklich vorgetragen.

Deutschland sei das „beste Land der Welt“, um das uns viele beneiden und dem die Welt vertraut, es lohnt sich, diesen Status zu verteidigen. Wen das nicht wachgerüttelt hat, der darf sich später nicht beschweren, er hätte nichts gewusst. Wulffs Schlussappell sitzt: „Wir Deutschen haben keinen Grund, Trübsal zu blasen.“



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