Geschichte der Glasindustrie wird im Erzählcafé lebendig

Über die Erfolgsgeschichte der Glasindustrie in der Oberhöchstädter Waldsiedlung berichtete Gert Schander beim Erzählcafé im Gemeindesaal St. Vitus.

Foto: Wittkopf

Oberhöchstadt (pf) – Viele Jahrzehnte lang nach dem Krieg kamen die Rückleuchten und die Blumenvasen des legendären VW-Käfers aus der Oberhöchstadter Waldsiedlung. Gefertigt wurden sie dort bei ABC-Glas, einem Unternehmen, das Franz Schander und sein Schwager Alfons Babel 1947 gegründet hatten und das bis 1992 existierte. Gert Schander, der als fünfjähriger Flüchtlingsjunge mit seiner und anderen aus der Hochburg der böhmischen Glasindustrie stammenden Familien in den Vordertaunus kam, 1965 in das Familienunternehmen eintrat, es übernahm und bis zu seinem Ende leitete, erzählte beim Erzählcafé des Vereins Heckstadt im Gemeindesaal der katholischen St. Vitus-Gemeinde Oberhöchstadt über dieses wohl nur wenigen bekannte Kapitel Oberhöchstädter Geschichte.

Krieg und Vertreibung hatten die aus dem Sudetenland stammenden Glasfacharbeiter über Thüringen und Nordhessen in den Vordertaunus gebracht. Sein Vater Franz Schander, dessen Bruder Kamill und Schwager Alfons Babel, die in der alten Heimat Glasschmuck gefertigt und Glaswaren erzeugt hatten, wollten auch im Taunus wieder in ihrem Handwerk arbeiten und sich so eine Existenz aufbauen.

In Stierstadt hatte sich das Neumühlengelände als Standort für einen Glas verarbeitenden Betrieb angeboten, zumal es dort sogar noch eine intakte Gasleitung gab. Dort entstand das Unternehmen Hessenglas. Bei einem Spaziergang entdeckten die Brüder Schander im Wald nahe Oberhöchstadt das ehemalige Munitionsdepot mit seinen 15 stabilen kleinen Häuschen, das von Bomben verschont geblieben war – ein ideales Gelände für eine eigene Glashütte.

Gert Schander erzählte von den Verhandlungen, die Vater und Onkel erfolgreich mit dem Flüchtlingsbeauftragten und der Amerikanischen Besatzungsmacht in Wiesbaden führten, sodass sie schon bald mit der Produktion beginnen konnten. Während der Onkel eine Schleiferei einrichtete, spezialisierten sich der Vater und sein Schwager schon bald auf Industrieglas.

Als die Firma Hella aus Lippstadt, Zulieferer für die Wolfsburger Volkswagen-Werke, fragte, ob sie für die VW-Käfer Rückleuchten herstellen könnten, entwickelte sein Vater, ein begeisterter Tüftler und Autonarr, erfolgreich ein kompliziertes Verfahren, das allerdings in der Anfangszeit regelmäßig aufwändige Reinigungs- und Instandsetzungsarbeiten erforderte. Das Glas bezogen sie aus dem bayrischen Neubeuern, denn das in Stierstadt produzierte Glas eignete sich nicht für das typische Signalrot. Die Lippstädter waren begeistert von dem Ergebnis und beauftragten ABC-Glas mit der Herstellung. „Das war der Durchbruch“, erinnerte sich Gert Schander. Und der Beginn einer jahrzehntelangen erfolgreichen Arbeit.

150 Menschen wohnten damals in der späteren Waldsiedlung. Jeweils zwei oder drei Familien teilten sich die Räume in den 15 Häuschen, bauten Schuppen und Plumpsklos an, mussten das Wasser jedoch in Eimern vom benachbarten Hofgut Hohenwald herbeischaffen, denn die Wasserleitung war im Krieg zerstört worden. Als Hella plötzlich von einem auf den anderen Tag seinen Auftrag zurückzog, nutzten die Arbeiter die Zeit und bauten mit Spitzhacke und Spaten eine neue Wasserleitung. Das neue Unternehmen, das die VW-Rückleuchten produzieren sollte, lieferte Ware, die den Ansprüchen von Volkswagen nicht genügten und so ging die Produktion in der Waldsiedlung schon bald weiter.

Nach dem Abzug der Amerikaner war das Areal der Waldsiedlung von der Vermögensverwaltung, die es von den Amerikanern übernommen hatte, zum Kauf freigegeben worden. Während die Familie Schander die Gelegenheit nutzte und die Grundstücke ihres Unternehmens für zehn Pfennig pro Quadratmeter erwarb, ließen die meisten der damals dort lebenden Familien diese Möglichkeit ungenutzt verstreichen. Das Ergebnis war, dass die Oberurseler Wohnungsgenossenschaft das gesamte übrige Areal erwarb und dort Hochhäuser, Mehrfamilien- und Reihenhäuser errichtete. Die Familien, die ihre Häuschen und Gärten, die sie viele Jahre lang bewirtschaftet hatten, räumen mussten, bekamen zwar in den Gebäuden Wohnungen. „Aber von da an funktionierte die Kommunikation zwischen ihnen nicht mehr“, berichtete Gert Schander, „obwohl sie nach wie vor Tür an Tür wohnten.“

ABC-Glas stellte später auch Gläser für die Zahnmedizin her und in den 70er-Jahren Gläser für die Leselampen und Sitzbeleuchtungen für das Unternehmen Airbus in Toulouse. Das waren besonders leichte Gläser, denn in der Luftfahrt zählt jedes Gramm. Erst als nach der Wiedervereinigung ein Großkunde absprang und immer mehr Aufträge in den preisgünstigeren Osten vergeben wurden, wo es gute optische Fabriken gab, entschloss sich Gert Schander nach dem Motto, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, die Produktion einzustellen und schloss 1992 das Werk. Damit ging ein interessantes Stück Industriegeschichte in Oberhöchstadt zu Ende. Seine Geschichte, die er unter das Motto „Vier Jahrzehnte böhmische Glasindustrie im Taunus“ gestellt hatte, ergänzte er um viele interessante Details zur Glasverarbeitung. So hatte jeder Glashersteller eine eigene Rezeptur. Der Gründer des Unternehmens Hessenglas in Stierstadt beispielsweise stellte das sogenannte Regenbogenglas her, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Doch als er starb, nahm er das Rezept mit ins Grab. „Es ist nie wieder aufgetaucht“, bedauerte Gert Schander. Inzwischen hat einer seiner Nachfahren eine reiche Sammlung zusammen gestellt, die während des Hessentags in Oberursel in der Alten Post zu sehen war. Demnächst wird sie im Hessenpark einen Platz finden.



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