Der Islam – eine „sichtbare und hörbare Religion“

Pfarrer Andreas Herrmann bei seinem gut strukturierten Vortrag zum Thema Islam

Foto: Sura

Oberhöchstadt (aks) – 4 Millionen Muslime leben in Deutschland. In den florierenden 60er-Jahren kamen die ersten sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei und mit ihnen ihr muslimischer Glauben. Da sich eigentlich alle einig waren, dass diese Migration nicht von langer Dauer sei und alle bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, fand wenig Integration statt, so Andreas Herrmann, Pfarrer und Referent für Interreligiösen Dialog-Islam des Zentrums Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. „Wir haben vergessen zurückzukehren“, zitiert er den deutschen Regisseur türkischer Abstammung, Fatih Akin. Die türkischen „Gastarbeiter“ trafen sich zunächst in Hinterhofmoscheen zum gemeinsamen Gebet, um sich auszutauschen und zur religiösen Unterweisung. Die Unterschiede zur deutschen Bevölkerung waren eher national und kulturell als religiös begründet.

Aus diesen lockeren Versammlungen bildeten sich diverse muslimische Organisationen heraus: Der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) wurde 1973 gegründet, mit Sitz in Köln und vereint 100 Moscheevereine. Aus der Reform Atatürks zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die unter anderem die Religion aus dem öffentlichen Raum verdrängte, wurde eine immer stärkere Gegenbewegung in der Türkei, die bis heute eine Stärkung des Islam fordert.

Die DITIB, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., zählt zirka 1.500 Mitglieder, ihr gehören 1.000 Moscheevereine an und sie ist eng mit dem türkischen Staat in Verbindung.

Der Islamrat, 1986 gegründet, vertritt die Interessen auf Bundesebene, erläuterte er in seinem gut struktrierten Vortrag weiter. Er wurde 1986 als bundesweite Koordinierungsinstanz und gemeinsames Beschlussorgan islamischer Religionsgemeinschaften in Berlin gegründet. Sitz des Verbandes ist Köln. Der Islamrat vertritt 37 Mitgliedsvereine mit geschätzten 40.000 bis 60.000 Mitgliedern. Größter Mitgliedsverein ist die türkische Islamische Gemeinschaft Millî Görüs (IGMG), die die Mehrheit der Mitglieder sowie den Vorsitzenden stellt, eine Gemeinde, die vom Verfassungsschutz untersucht werde, informierte er.

Der Zentralrat der Muslime mit seinem eloquenten und medial sehr versierten Vorsitzenden Aiman Mazyek, der sogar Büttenreden an Karneval hält, gibt es seit 1994. Hier sind auch nicht-türkische Muslime vertreten.

Alle vier Verbände haben sich zum Koordinationsrat der Muslime 2007 zusammengeschlossen. Alle sechs Monate wird ein neuer Sprecher gewählt.

Nur 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime würden von diesen Verbänden vertreten. Die größte Herausforderung sei, eine angemessene Struktur zu finden, damit sich diese Verbände weiter entwickeln können. Wichtiges Thema hierbei sei auch der islamische Religionsunterricht an Schulen, der im Grundgesetz Artikel 7 verankert ist, der aber mit mangelnder Religionspädagogik kämpfe. „Den Landesregierungen fehlt es an verlässlichen Ansprechpartnern, die Lehrpläne schaffen.“ In Gießen werden vor allem Religionslehrerinnen ausgebildet, die islamische Theologie vermitteln. Dies geschieht heute in 27 Grundschulen in Hessen für 440 Schüler, so führte Herrmann weiter aus.

Ein nicht zu übersehendes Symbol des Islam sind die Moscheen, von denen es heute 2.600 in Deutschland gibt. „Da die Religionsfreiheit im Grundgesetz nicht verhandelbar ist, sind diese Bauten, die für die Identität einer Gesellschaft stehen, grundsätzlich zu akzeptieren“, erläuterte Herrmann. Sie stehen für eine andere Religion, für Selbstbewusstsein, sie sind „Schlagbilder“, wie es der Referent immer wieder betonte. Konflikte entständen regelmäßig, vor allem bei mangelnder Kommunikation und Transparenz. Presse, Politik, aber auch die angrenzenden Kirchen seien hier gefragt. Es gebe das gegenseitige Ringen um Anerkennung. Den viel diskutierten Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“, will Herrmann so verstehen, dass der Islam in Deutschland zur Realität geworden ist.

Angst vor Terror

Seit Ende der 90er-Jahre werden vor allem Jugendliche in Deutschland von Salafisten zu einem islamischen Fundamentalismus verführt, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Der Erfolg der Salafisten liege darin, dass sie die Sprache der Jugendlichen, die deutsche Sprache, sowie alle sozialen Medien gut beherrschen. „Ihr Know-how macht sie so gefährlich. Sie bieten jungen Menschen mit Diskriminierungserfahrungen ein Wir-Gefühl, eine neue Heimat.“

Es gelte jedoch festzustellen, dass auch im Islam „Ungläubige“, die eine falsche Ausprägung des Islams, der von Land zu Land unterschiedlich sein kann, verurteilt werden. Die Aufgabe der islamischen Theologie müsse darin liegen: „die Deutungshoheit über den Islam zu gewinnen“. Dabei darf nicht der Fehler begangen werden, den Islam mit Gewalt gleichzusetzen. Herrmann prangert in diesem Zusammenhang die Nahost-Politik des Westens im Golfkrieg an. Er stellt fest: „In den 90er-Jahren sind eine Million Iraker gestorben, davon 500.000 Kinder. Saddam sollte weg, man hat vor nichts zurückgeschreckt!“ „Unsere Gesellschaft ändert sich, homogene Strukturen sind passé.“ Das klingt erstmal beängstigend, deshalb sollten sich Christen überlegen, welchen Beitrag sie leisten können, damit ein friedliches Miteinander in einer gesellschaftlichen Reform gelingen kann. Der Islam-Kenner rät dringend dazu, zu differenzieren: „Es gibt die Weltreligion des Islam, die weder Islamismus noch Wahabismus mit ihren menschenverachtenden Ausprägungen ist!“

Ausgangspunkt für jeden Dialog der auf unterschiedlichen Ebenen geführt werden sollte, wenn er zu Verständnis und Vertrauen führen soll, müsste sein: „Du sollst kein Falsch-Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

Die Fragen aus dem Publikum zeugten von großer Sachkenntnis und drückten teilweise Besorgnis aus. So wurde bemängelt, dass in Deutschland zwar zur Toleranz erzogen werde, aber die gegenseitige Toleranz nicht vorhanden sei. Gabriele Hildmann, die die Diskussion moderierte, warf dazwischen, dass das System in Deutschland doch gut funktioniere und wir nicht mit anderen „aufrechnen“ müssten, sondern darauf stolz sein könnten.

Eine weitere Frage aus dem Publikum war: Warum wird „Allahu akhbar“ von den Minaretten gerufen, der oft gehörte Schlachtruf der IS-Kämpfer? „Allahu akbar bedeutet schlicht: Gott ist größer. Auch wenn wir nach Gott fragen, ist Gott immer größer als jede Deutung und jede Idee“, klärte Herrmann auf.

Der Koran

Der Koran ist die Heilige Schrift des Islam, dem Folge zu leisten ist, erläuterte er. In den Koranschulen werden die Pflichtgebete (Suren) auf arabisch auswendig gelernt. Der Referent machte deutlich, dass es im Koran deutliche Aufrufe zu Gewalt gibt. Es gelte für die islamische Theologie, diese im historischen Kontext zu relativieren.

Für die Radikalisierung des Islam macht er auch die Türkei unter Erdogan verantwortlich, die vor Kurzem 20 Professoren suspendiert hat, die sich für Frieden eingesetzt haben. Die Kontrolle über die Religion ist in der Türkei dem Ministerpräsidenten unterstellt. Dies führt seiner Überzeugung nach zu den meisten Konflikten der islamischen Gemeinden in Deutschland.

Immer wieder – auch bei den Gästen dieses Abends – werde kritisiert, dass sich die Autoritäten der islamischen Vereine nicht genug von Gewalt und Terror distanzieren.

Macht diese ihren seinen gläubigen Brüdern wirklich klar, dass der Islam das Leben bejaht und nicht den Freitod der sogenannten Märtyrer? Die Imame werden aus der Türkei nach Deutschland geschickt, wo sie die Kultur nicht kennen, und gehen nach vier Jahren wieder zurück in ihre Heimat. Herrmann hält dies für den Grund, warum nicht klar politisch und kulturell Stellung bezogen wird.

„Was hat der Islam, was wir nicht haben?“, so lautete die nicht einfach zu beantwortende Schlussfrage aus dem Publikum. „Der Koran ist der Leitfaden für ein gutes Leben“ so Andreas Herrmanns Erklärung. Er sei die Antwort auf die Frage: „Wie kann ich mein Leben gestalten? Er ist so attraktiv, weil er die Praxis beschreibt und welche Taten und Haltungen für ein gläubiges Leben unverzichtbar sind.“ Der Islam sei außerdem eine „sichtbare Religion“ mit ihren Moscheen und Gebetsteppichen – und eine hörbare, wenn der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet ruft.



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