250 Jahre St. Alban: – Erinnerung an eine Kindheit im Schatten der Kirche

Schönberg / Steinbach. – Im Rahmen des Jubiläumsjahrs des Kirchorts St. Alban (1766-2016) in Schönberg, Friedrichstraße 55 erinnert sich der heutige Wahl-Steinbacher Hans-Jürgen Rieckmann für die Leser des Kronberger Boten an seine Zeit „im Schatten von St. Alban in Schönberg“ zurück:

Aufgewachsen bin ich in Schönberg, Am Eichbühl, mit Blick über die Keil’sche Wiese hinüber zur katholischen Kirche und dem Altkönig als Kulisse dahinter. (Dass diese Kirche St. Alban heißt, habe ich erst viel später erfahren.) Obwohl noch gerade kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren, durfte ich in Schönberg eine verhältnismäßig ruhige Kindheit genießen, nicht zuletzt aber auch, weil die Mutter manches von mir fern hielt.

Stets ist der Kirchturm der Mittelpunkt des Dorfes – und damit auch so etwas wie mein Lebensmittelpunkt – gewesen. Ganz oben auf dem Turmkreuz reckte sich ein stolzer Hahn. Seit ich denken kann, blickte der unverwandt nach Westen. Die Mutter erklärte mir, dass der sich eigentlich immer nach der Windrichtung drehen sollte, aber nun war er offenbar eingerostet und an eine Reparatur sei wohl in diesen schlechten Zeiten nicht zu denken. Und genau so verhielt es sich mit der Turmuhr. Die stand unbeirrt immer nur auf Punkt zwölf. Später habe ich manchmal gedacht, ob damals sowohl der Hahn als auch die Uhr, von ihrer luftigen Höhe aus, die schlimmen Zeiten früh heraufziehen sahen und einfach vor Schreck erstarrt sind?

Einige Zeit nach Kriegsende kam wieder Leben in die beiden. Was sich an dem Gockel tat, konnte man weithin sehen, denn am Kirchturm hingen Dachdeckerleitern und Männer kletterten darauf waghalsig in luftiger Höhe herum. Die Reparatur der Uhr blieb aber natürlich der Öffentlichkeit verborgen, bis sie dann eines Tages ihren Dienst wieder aufnahm. Fortan hielt ich oft Ausschau nach dem Kirchturm. Dass der Wetterhahn weiterhin meistens nach Westen schaute, lag wohl daran, dass halt hierzulande meistens Westwind herrscht. Aber die Zeiger der Uhr wiesen den Schönbergern wieder die Zeit – und sie waren sich darin auch sogar auf allen vier Zifferblättern einig. Auch das Stunden – Schlagwerk, das ich nie zuvor gehört hatte, erwachte zu neuem Leben: die hellere Glocke jede Viertelstunde, zur vollen Stunde dann zusätzlich auch die zweite, mit tieferem Ton.

Das damalige Geläut von St. Alban ist mir noch heute deutlich im Gedächtnis, ja, ich meinte sogar, diese Glocken leicht von allen anderen unterscheiden zu können. Dass das gerade an ihrer besonders „bescheidenen“ Qualität lag, konnte ich da noch nicht wissen. Aber diese Glocken bestanden nicht aus Bronze, sondern aus – Stahlguss. Das ursprüngliche Bronzegeläut hatte, wie vielerorts, im Weltkrieg Nr. 1 abgegeben werden müssen, es wurde für Kriegszwecke, zur Herstellung von Kanonen und Granaten, eingeschmolzen. „Metallspende“ nannte man dies zynisch.

Als ich längst nicht mehr in Schönberg wohnte, wurden die Stahlglocken wieder durch ein schönes Bronzegeläut, das gebraucht angekauft werden konnte, ersetzt, aber wenn ich heute durch mein Heimatdorf gehe und vom Kirchturm die Glocken höre, ist und bleibt mir irgendwas fremd. Die Stahlglocken stehen heute neben der Kirche, nicht zuletzt auch den Nachgeborenen als Mahnung.

Mit diesen Stahlglocken verbindet mich auch noch ein ganz persönliches Kindheitserlebnis. Wenn man so nahe an einer Kirche wohnt, gewöhnt man sich an das frühe sonntägliche Läuten und fühlt sich kaum mehr gestört. Anders mein kleiner Cousin, der gerade seine ersten Erfahrungen im Umgang mit der Sprache sammelte und der mit seiner Mutter ein paar Tage bei uns zu Besuch war. Der wurde von den Glocken unsanft aus seinem morgendlichen Schlummer aufgeschreckt, stand aufrecht in seinem Bettchen, hob drohend den winzigen Zeigefinger und verkündete: „Bimbam – Dudu – Heia!“ Damit war alles gesagt.

Mit der Orgel von St. Alban hatte ich als Kind eine Fernbeziehung. Will heißen: Wenn ich Sonntagsmorgens im warmen Sommersonnenschein auf der Wiese saß und den weißen Wolken am blauen Himmel und den Insekten im Gras zusah, klang von der Kirche eine wunderbare Musik zu mir herüber. Die Mutter erzählte mir, dass das eine Orgel sei, ein großes Instrument, viel größer als ein Klavier, und dass es von dem Schönberger Hauptlehrer Ernst Schneider gespielt würde, den ich bereits lange vor meiner eigenen Schulzeit von Begegnungen auf der Dorfstraße kannte. Das musste großartig sein, wenn einer eine so schöne Musik machen konnte! So schloss ich mit den ersten Orgeltönen, die mein Ohr erreichten, spontan Freundschaft, und das ist bis heute so geblieben. Das Orgelspiel von Herrn Schneider und, später, der Besuch der Kindergottesdienste in Kronberg, haben in meinem Kopf Weichen gestellt und als

Gymnasiast habe ich dann den Weg auf die Orgelbank gefunden und mir soviel an bescheidenen Kenntnissen angeeignet, dass ich in meiner jetzigen Wohngemeinde Steinbach, mittlerweile seit über 40 Jahren, den Organistendienst versehen und mich so in der Gemeinde nützlich machen kann.

Als ich noch ein Schulkind war, gab es in Oberhöchstadt einen sehr strengen Pfarrer. Die Kinder dort fürchteten ihn. Nun, in der Schule konnten sie ihm ja nicht entkommen, aber was die Beichte betraf, hatte ein kleines Grüppchen einen Weg gefunden, ihm zu entgehen: sie pilgerten samstags nach Schönberg, um in St. Alban zu beichten. Es waren Kinder von Bekannten meiner Mutter darunter, darum tauchten sie nach der Beichte mitunter bei uns auf und so habe ich von diesem Ausweichmanöver erfahren. Wer ihnen damals in Schönberg die Beichte abgenommen hat, habe ich nie erfahren...

Gut erinnere ich mich an die Fronleichnamsprozession. Da wurden die Straßen schön geschmückt mit Birkenreisern und vor vielen Häusern gab es Blumengebinde. Vier Altäre wurden aufgebaut, ebenfalls mit viel Blumen. Die Altäre wurden der Reihe nach von dem feierlichen Zug besucht. Kleine Mädchen in weißen Kleidchen, Fahnenträger, der Pfarrer unter einem Baldachin, und, für uns Kinder, die wir nebenher liefen, die größte Attraktion: die Blechbläser des Kronberger Musikvereins, mit der riesigen Basstuba.

Wenn die Gemeinde wieder in der Kirche verschwunden war, liefen wir gern noch einmal durch die Straßen und bewunderten die Blumen. Allerdings ließen dann manche inzwischen die Köpfe hängen und auch die Birkenstämmchen begannen zu welken.



X