„Inklusion kann verordnet werden, die Haltung dazu nicht“

Haja Rother, Schulleiter der Grundschule Süd-West in Eschborn Foto: Pfeifer

Schönberg (pit) – Inklusion ist ein immer wieder in die Schlagzeilen geratendes und überwiegend negativ betrachtetes Thema. In der Reihe des Schönberg-Forums war es an Hajo Rother, diese seit Jahrzehnten immer wieder aktuelle und überaus komplexe Aufgabe vorzustellen, die sein Schulalltag ist. Denn er ist Grund- und Förderschullehrer und seit 16 Jahren Schulleiter der Grundschule Süd-West in Eschborn, in der seit 1986 Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Somit war diese Institution gleichzeitig eine der ersten inklusiv arbeitenden Schulen in Deutschland. Vor Augen halten musste man sich dabei immer wieder, dass schon 1979, als Hajo Rother sein Studium aufnahm, der Wunsch nach einem inklusionspädagogischen Konzept groß war: „Doch das gibt es bis heute nicht“, so Rother.

Zunächst gab er eine kurze Einführung in die Historie und die Begrifflichkeiten wie zum Vortragsthema selbst, dann aber auch zu Exklusion, Integration, Segregation oder Separierung nach Fähigkeiten und Eigenschaften. Denn Inklusion befasst sich gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ausschließlich mit der Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft und deren Einbeziehung in die Gesellschaft.

Vor allem werde die Inklusion jedoch mit der Integration in Verbindung gebracht, beziehungsweise parallel hierzu besonders kritisch beäugt. Denn in Zeiten großer Flüchtlingsströme stellt sich eben diese Gesellschaft die Frage, ob bei der Integration, die den Schulalltag bereits erheblich belaste, Inklusion überhaupt tragfähig sei.

Für Hajo Rother ist dies vor allem anderen eine Frage der Haltung. Unvergessen ist ihm noch heute eine Reise nach Dänemark Anfang der Achtzigerjahre, bei der er Grundschullehrer getroffen habe, die mit dem Begriff der „lernbehinderten Kinder“ nichts anfangen konnten. Für sie galt, dass sie eine Beeinträchtigung beim Lernen hätten, aber nicht behindert sind. „Die Lernbeeinträchtigung macht sich über den Intelligenzquotienten bemerkbar, das Kind kann nicht lernzielgleich mit anderen unterrichtet werden“, so Hajo Rother. Somit herrsche in Dänemark das Normalisierungsprinzip, allen Kindern werde die gleiche Bildung vermittelt, Spezialschulen seien selten.

„Spezialschulen halte auch ich für sinnvoll, doch man sollte sie nicht zwangsweise wählen müssen“, votierte der Schulleiter. Und obwohl in Deutschland die Entwicklung derzeit in Richtung Exklusion gehe, könne im Main-Taunus-Kreis derzeit noch festgehalten werden, dass 80 Prozent der Kinder mit Behinderung in eine normale Grundschule gehen. Die weiterführende Schule sei dann ein ganz anderes Thema. Denn da stelle sich die Frage, wo das Kind seinen Fähigkeiten entsprechend am besten untergebracht ist. Und somit sei an dem Förderschulsystem im Grunde auch nicht zu rütteln: „Das muss aber doch nicht bei der Grundschule sein.“

Von großer Bedeutung seien dabei Struktur und Unterstützung und eben: „Inklusion kann verordnet werden, die entsprechende Haltung dazu nicht.“ Hajo Rother wagte daher zu bezweifeln, dass sich die deutschen Unterzeichner der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 in aller Konsequenz darüber im Klaren gewesen seien, was sie da unterschrieben hätten. Denn deren Ziel ist die Umsetzung der Inklusion.

Wie sie im Alltag tatsächlich aussieht, davon konnten sich die Zuhörer insbesondere anhand des kleinen Films, den Hajo Rother mitgebracht hatte, ein Bild machen. Hier erfuhren sie obendrein, dass es an der Eschborner Grundschule parallel auch eine Hochbegabtenförderung gibt. Denn Inklusion wird hier in allen Richtungen praktiziert.

Fragen blieben aber auch offen. Zum Beispiel danach, was aus den Kindern in der Leistungsgesellschaft hierzulande wird: „Die vierten Klassen werden von uns gut auf die weiterführenden Schulen vorbereitet.“ Denn für Hajo Rother ist klar, dass Inklusion dann kaum noch an einer Schule möglich ist. Das liege vor allem an der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder während der Pubertät.

Eine Großmutter freute sich wiederum über den umfassenden Einblick, den sie an diesem Abend in die Thematik erhielt: „Meine Enkelkinder gehen in Nordrhein-Westfalen in eine solche Schule und bisher war mir gar nicht so richtig klar, was sich dahinter verbirgt.“ Doch dieser Vortrag habe sie sehr von der Inklusion an der Grundschule überzeugt.



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