Buchtipp Aktuell

Wir hätten uns alles gesagt, von Judith Hermann, Fischer Verlag 23 Euro

Im Sommer 2022 hat Judith Hermann diese drei Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main gehalten. Es geht ihr darin um das „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Was zunächst wie eine Autobiografie daherkommt, entpuppt sich als ein poetisches Verwirrspiel, bei dem „am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“. So erzählt uns die Autorin von einer Berliner Altbauwohnung, in der sie mit den Eltern und drei Geschwistern aufwächst. Ihre Mutter, hält als Angestellte mit ihrem Gehalt die Familie über Wasser, der Vater, ebenso kreativ wie depressiv, beschwert und verzaubert diese Kindheit. Er baut eine riesige Puppenstube mit Falltüren und verborgenen Kammern, später ein Kasperletheater, von dem er behauptet, die Puppen würden ohne menschliches Zutun agieren. „Ich sollte wissen, dass nichts so war, wie es zu sein schien.“ Die Erzählerin verbringt als junge Mutter mit ihrer Wahlfamilie, dem „Rudel“ um die geheimnisvolle und wunderschöne Ada, die Sommer in ihrem Haus „Daheim“ am Meer. Traumhafte Ferientage, an deren Ende sich alle weinend in den Armen liegen, denn keiner möchte dieses Paradies verlassen. Heute steht die Puppenstube dort zerstört, oder ist sie überhaupt noch da? Die Puppe Anna ist übriggeblieben und sitzt auf dem Fuß der Lampe auf dem Schreibtisch der Autorin. Die beiden scheinen sich gegenseitig zu beobachten. Es gelingt der Autorin das Unsagbare für sich zu behalten und die Realität so zu verfremden, dass sie wieder wahr wird.

Ein herausragendes poetisches Buch über das Schreiben von einer der besten zeitgenössischen Schriftstellerinnen. Ein Muss für Literaturfans!



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