Lesung mit Reiner Engelmann in der AKS – „Die Geschichte darf sich nicht wiederholen“

Kronberg (kb) – Jedes Jahr in der ersten Februarwoche gestaltet die Altkönigschule in Kronberg, während die Siebtklässler auf Skifreizeit sind, eine Sonderwoche mit ganz unterschiedlichen Projekten, die auf die einzelnen Jahrgänge abgestimmt sind. Das Medien- und Methodentraining, das die aktuellen Elftklässler durchliefen, wurde jedoch am Mittwoch von einer Lesung unterbrochen, die die Jugendlichen nachhaltig beeindruckt hat. Die Schülerinnen Hanna Scholz sowie Jiwon Lee (beide aus dem Leistungsvorkurs Deutsch und Mitglieder der Kreisau-AG) haben ihre Impressionen für uns festgehalten ...

„Der Buchhalter von Auschwitz“ – Erinnern für die Zukunft: „Oskar Gröning ist 21 Jahre alt, als er als überzeugter SS-Mann nach Auschwitz abkommandiert wird. Seine Aufgabe besteht darin, die Wertsachen der Häftlinge zu verwalten. Obwohl Gröning von der Ermordung der Menschen weiß, rechtfertigt er seine Arbeit damit, dass er nicht unmittelbar an der Tötung beteiligt ist. In einem der letzten großen Auschwitz-Prozesse wurde Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden verurteilt. Reiner Engelmann hat seine Lebenssituation anhand von Interviews und Gerichtsprotokollen aufgeschrieben.“ – So lautet der Klappentext des Buches „Der Buchhalter von Auschwitz“.

Reiner Engelmann, der bereits zahlreiche Bücher über den Nationalsozialismus publiziert hat, eröffnete die Lesung mit einer moralisch provokativ gestellten Frage. Ob den Tätern des Nationalsozialismus – ungeachtet ihres beträchtlichen Alters – der Prozess gemacht werden soll, will er vom Publikum wissen. Die Schüler waren fest davon überzeugt, dass ein Gerichtsprozess angesichts der Höhe der Schuld und des wissentlichen Mitwirkens in der Mordmaschinerie angemessen sei.

Die meisten Täter führten nach 1945 ein normales, teilweise sogar beruflich erfolgreiches Leben, abseits von Kummer, Trauma und Schmerz. Im Vergleich dazu begleiteten die Opfer und Angehörigen jahrzehntelang traumatische Erinnerungen an die einstigen Gräueltaten – da muss doch Gerechtigkeit herrschen.

Zunächst führte Engelmann sein Publikum in das Leben von Oskar Gröning ein, angefangen vom Kindesalter bis hin zu seinem Tod. Gröning sei in seiner Kindheit von Seiten seines Vaters wegweisend beeinflusst worden. Dieser sei treuer Anhänger nationalsozialistischer Ideologien gewesen. Jener patriotische Erziehungsstil beeinflusste die Kindheit seines Sohnes so gravierend, dass Gröning im Jugendalter passioniert in der Hitlerjugend aktiv war. Von dort aus führte er seine Kariere als ambitionierter Nationalsozialist fort. Schließlich übernahm er eine verantwortungsvolle Tätigkeit als Buchhalter im Konzentrationslager Auschwitz. Hier verwaltete er das Geld der ermordeten Juden und hielt Wache an der Judenrampe. Dabei betonte Engelmann das Ende Oskar Grönings, indem er die Frage in den Raum warf, wie lange seine Haftstrafe wohl betragen habe. Darauf äußerten die Schüler erste Vermutungen – 15 Jahre, lebenslänglich, da waren sich alle Schüler einig. Als jedoch das wahre Strafmaß bekannt wurde, ging ein entsetztes Raunen durch die Menge – vier Jahre Haft für einen Mittäter des grausamsten Verbrechens der Menschheit im 20. Jahrhundert. Damit beendete er die ersten 90 Minuten der Lesung und entließ die Schüler in die Pause, in der emotionale Diskussionen über Mitschuld, Legitimität von Verjährungsfristen und Schuldzuweisungen der Täter geführt wurden.

Als sich die erhitzten Gemüter wieder beruhigt hatten, begann der zweite Teil der Lesung, in welchem Engelmann bereitwillig allen wissbegierigen Schüler*innen Rede und Antwort stand. Die Frage nach der ursprünglichen Motivation, Bücher aus Opfer- als auch Täterperspektiven zu verfassen, beantwortete er folgendermaßen: Während seiner Schulzeit wie auch in familiären Kreisen wurde die Verfolgung und systematische Ermordung von Millionen von Juden lediglich oberflächlich behandelt oder gar tabuisiert und totgeschwiegen.

Diesem Versäumnis von damals entgegenzuwirken versucht er heute in Form von biographisch-aufklärender Literatur. Hier ist sein primäres Ziel, junge Generationen für die unzähligen Einzelschicksale zu sensibilisieren und wichtige Aufklärungsarbeit durch Lesungen an Schulen zu leisten. Ob er auch persönlichen Kontakt mit Oskar Gröning aufgenommen habe, interessierte eine Schülerin. Engelmann konnte ihn tatsächlich überzeugen, mit ihm zu kommunizieren, allerdings nur telefonisch. Gröning war nicht sonderlich gesprächsbereit – er lehnte jegliche persönliche Treffen konsequent ab.

„Die Geschichte darf sich nicht wiederholen“ – mit diesem Appell beendete er die Lesung, die vielen Schülern noch lange in Erinnerung bleiben wird.



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