9. November 1938: „Gefährlich ist der ganz normale Mensch“

Georg Praml begleitet die Lesung von Monika Held am Kontrabass. Foto: bg

Oberursel (bg). Für die Deutschen ist der 9. November ein geschichtsträchtiger und gleichzeitig sehr widersprüchlicher Tag. 1918 die Ausrufung der ersten deutschen Republik, 1938 die Reichspogromnacht und 1989 der Fall der Berliner Mauer. „Ein Tag zum Nachdenken über unser Land“, so formulierte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Gedenkrede zum 9. November.

In Oberursel hatte die Initiative Opferdenkmal mit Annette Andernacht an der Spitze in Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Sportförderverein Oberursel (KSfO), der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus (GCJZ), dem Verein Kunstgriff und dem Kulturkreis Oberursel zur Konzertlesung „In Auschwitz gab es keine Vögel“ eingeladen. Im Rathaus-Sitzungsaal konnten an der Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen von 1938 wegen der Corona-Auflagen nur 60 Personen teilnehmen, die sich anmelden mussten.

Das Grußwort hielt Bürgermeisterin Antje Runge. Sie rief dazu auf, aus der Geschichte zu lernen und Verantwortung zu übernehmen für ein demokratisches Miteinander, wo kein Mensch wegen seines Glaubens, seiner Rasse, seiner Herkunft oder politischen Anschauung diskriminiert, eingesperrt, verfolgt oder getötet werden darf. Sie führte aus: „Am 9. November 1938 übernahm der antisemitische Hass auf den Straßen die Macht. Organisierte Schlägertrupps setzten jüdische Geschäfte und Synagogen in Brand. Jüdische Mitbürger wurden vor den Augen der Nachbarn durch Straßen gejagt, misshandelt, verhaftet, gar getötet. An diesem Tag wurde das Signal zum größten Völkermord Europas gegeben.“ Heute ist für sie der 9. November ein Tag „gegen das Vergessen“. Ein Tag der Erinnerung und der Mahnung, dass nie wieder Vergleichbares geschehen darf.

Die Konzertlesung von Monika Held und Gregor Praml begann mit dem O-Ton des KZ-Häftlings Heiner Rosseck „Es gab keine Vögel in Auschwitz, ich weiß nicht was die Vögel aus Auschwitz vertrieben hat, Totenstille.“ Eine sympathische Stimme mit leichtem Wiener Dialekt. Dazu setzte bedeutungsschwer der tiefe Kontrabass ein, gestrichen von Georg Praml, und Monika Held begann mit den Worten: „Wir machen jetzt gemeinsam ein Reise durch die Zeit. Passt auf eure Gedanken auf“, mahnte sie. „Aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten.“ Die Lesung basiert auf dem Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“ und berichtet über das Leben des KZ-Häftlings Heiner und seiner Liebe zu Lena. Er erzählt, wie Heiner und seine Frau Lena sich beim Frankfurter Auschwitz-Prozess kennengelernt haben. Er war als Zeuge aus Wien angereist, sie übersetzte während des Prozesses polnische Zeitzeugenaussagen.

Heiner wurde am 9. September 1942 nach Auschwitz geschickt. In einem langen Zug zusammen mit 1860 Menschen. In seinen Papieren zwei Buchstaben: „RU – Rückkehr Unerwünscht“. In Auschwitz wurde aus ihm der Häftling 63 387. Er hat das KZ überlebt, 792 Tage. Ein Ort, an dem jeder an jedem Tag zu jeder Zeit getötet werden konnte. Eindringlich unterlegt Georg Praml die Texte von Monika Held mit seinem Kontrabass, den er als Jazzbassist bespielt, zupft, mit dem Bogen streicht oder auf ihn einklopft. Dazu setzt er Effektgeräte und eine Loop-Station ein. So kreiert er Klanglandschaften, die fast nach einem ganzen Orchester klingen. Sie untermalen die schrecklichen Szenen aus der Hölle von Auschwitz, die Monika Held ruhig, fast lakonisch vorträgt. Besonders aufwühlend die Feststellung: „Die Sadisten sind nicht die Gefährlichsten, gefährlich ist der ganz normale Mensch.“

Stille, langes betroffenes Schweigen im Saal, nachdem Monika Held und Georg Praml verstummt waren. Erst zögerlich setzte Beifall ein. Noch immer schweigend machten sich die Teilnehmer nach dieser Konzertlesung mit einer Kerze in der Hand auf den Weg zum Opferdenkmal. Auf dem Weg dorthin kamen sie auch an dem Gedenkstein an der Ausfahrt der Stadthallen-Tiefgarage vorbei mit dem Zitat Richard von Weizsäckers: „Der Geschichte kann keiner entkommen, wer sich nicht daran erinnert, ist gezwungen, sie zu wiederholen.“ Am Denkmal mit den Namen der Oberurseler Opfer des Naziregimes wurden die Kerzen aufgestellt. Als Vertreter der GCJZ sprach Tibi Aldema das jüdische Gebet El Male Rahamim. Er erinnerte damit an die über sechs Millionen Juden und weiteren Opfer, die durch die Terrorherrschaft der Nazis ihr Leben verloren.



X