Chewing Gum und weiße Fahnen

Josef Friedrich ist als Messdiener in St. Ursula, als „die Amis kommen“. Foto: js

Oberursel (js). Das Geräusch an diesem sonnigen Karfreitagmorgen war neu für die Oberurseler. Hunderte Luftalarme hatten sie erlebt, den Lärm von Kriegsflugzeugen und das Geheul der Sirenen, die in die Schutzbunker riefen. „Es hat gerasselt“, erinnert sich Josef Friedrich. „Es klang nach Rasseln und Rattern.“ Josef Friedrich, damals elf Jahre alt und Messdiener in St. Ursula, hörte das Scheppern mit seinem Kollegen und dem Hilfsküster in der Sakristei, während Pfarrer Josef Hartmann in der überfüllten Kirche gerade die Predigt hielt. „Nur der Küster ist rausgerannt und kam wenig später mit der Nachricht zu uns Buben zurück, dass die Amis kommen“. Erst nach dem Gottesdienst sind alle auf die Straße gegangen, runter zum Marktplatz. „Es waren die Ketten der Panzer, die über das Katzenkopfpflaster am Marktplatz gerollt sind, die wir bis in die Kirche gehört hatten. Wir hatten keine Angst, es war eher die Gewissheit, jetzt beginnt etwas Neues“, beschreibt Josef Friedrich seine Empfindungen im Rückblick. Nur Friedrichs Tante, die einen Stern auf einem der lärmenden Kettenfahrzeuge erspäht hatte, hegte noch Argwohn: „Bub, ich glaube, die Russe komme!“ Die Kirchgänger hielten es eher mit dem Pfarrer, der stets gesagt habe, „St. Ursula hält die Hand über die Stadt“, so Friedrich. Am Karfreitag 1945 beginnt die neue Zeit mit rollenden Panzern, Lastwagen und Jeeps, einer ersten US-Kampfkolonne, die von Königstein kommend durch die Stadt rollt. „Schon bald hingen weiße Fahnen aus vielen Fenstern, gehisste Betttücher zum Zeichen der Friedfertigkeit“, erinnert sich Josef Friedrich.

Bilder prägen die Erinnerung

„Es war ein Karfreitag, an dem es nicht geregnet hat“, fällt Manfred Kopp spontan ein. „Man hat geahnt, es ist Entscheidendes passiert, aber man musste sich täglich neu orientieren, so überschlugen sich die Nachrichten.“ Vom Wohnzimmerfenster aus sah der elfjährige Bub die Panzer durch die Feldbergstraße rollen. Es war sein Fenster zur Welt, durch das er die Vermischung von „persönlichem Schicksal und Weltgeschichte“ erlebte. Den Rückzug deutscher Soldaten nach Norden hat er dort beobachtet, den Zug der gefangenen abgeschossenen alliierten Piloten, die immer wieder in Gruppen vom Oberurseler Bahnhof zum „Durchgangslager Luft“ (Dulag) im Norden der Stadt gebracht wurden, eskortiert von bewaffneten Soldaten. „Das Dulag wurde bereits Mitte März geplündert, als die Amis kamen, war bis auf ein paar Formblätter nichts mehr da, was amtlich war. Die Verantwortlichen waren abgehauen, auch aus der NSDAP-Parteizentrale in der Lindenstraße.“ Es sind Bilder, die Kopps Erinnerung bestimmen: „Durchhalteparolen, das Bedrohliche, dann die Auflösung, später die Verklärung, die Welt der Sieger, die Welt von Chewing Gum, AFN und John Wayne.“ Die Realität war meist nüchtern: Der Bub musste in den Kriegstagen auch bei möglichen Tiefflieger-Angriffen raus auf die Felder, um die Saatkartoffeln kurz vor Ostern in den Boden zu bringen. „Bei Alarm haben wir uns in die Ackerfurchen gelegt.“

Klaus Fink war 13, als die Amis kamen. In seinen Jugenderinnerungen „… und ich war überall dabei“ schreibt der Oberurseler: „Am 30. März 1945, Karfreitag, vormittags gegen 10 Uhr, waren plötzlich, nach den Aufregungen der vergangenen Tage, hervorgerufen durch die zurückweichenden deutschen Soldaten und die allgemeine Ungewissheit über das Bevorstehende, vom Oberhöchstadter Berg her und von der Frankfurter Straße eigenartige, fremdartige Geräusche zu hören. Allen war klar, dass dies nur die amerikanischen Truppen sein konnten, die sich unserer Stadt näherten. Da dieses Schauspiel uns Jugendliche sehr interessierte, trauten wir uns zunächst vorsichtig, dann aber gewagter aus unseren Behausungen, um die fremden Soldaten zu beobachten. Oberurseler Jugend belagerte die Fahrzeuge. Mädchen kletterten auf die Panzer, schäkerten mit den fremden Soldaten, wenn die langen Kolonnen zum Stillstand kamen, und erhielten Schokolade.“

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