Kurze Show vor wenigen Radsportfans

Es scheint fast, als würden sie fliegen über den holprigen historischen Asphalt den Marktplatz hinauf. Ein kurzer Moment nur und dann ist die rasende Show auch schon wieder vorbei, die Radprofis haben keinen Blick für die pittoreske Altstadt drumherum. Foto: Streicher

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Absolute Weltklasse am Start, doch die Zuschauer sollten möglichst zu Hause bleiben und sich die 60. Auflage des Rad-Klassikers Eschborn-Frankfurt im Fernsehen anschauen. Dafür warben selbst die Veranstalter, das geneigte Publikum folgte brav, vielleicht auch, weil die Umstellung vom 1. Mai auf den ungewohnten Septembersonntag nicht in allen Köpfen angekommen war. Denn Tradition ist nun einmal Tradition. Da kommt auch Corona nicht dran vorbei.

Der 1. Mai und Radrennen auf Oberurseler Pflaster ist so eine Tradition. Hier sind auch schon die Legenden des Radsports, Eddy Merckx und Rudi Altig, Didi Thurau und jede Menge andere Helden des internationalen Radsports durchgekommen auf dem Weg zum Feldberg, der Billtalhöhe und später zum berüchtigten Mammolshainer Stich. Immer schön pünktlich am „Tag der Arbeit“, als das Rennen noch „Rund um den Henninger Turm“ hieß und jeder Bub im Städtchen es kannte. Auch zuletzt unter dem neuen Namen immer ein Höhepunkt im Jahreskalender der „Orscheler“. Die Menschen standen an der Berliner Straße und die Hohemarkstraße hinauf, später wurde der Marktplatz zum Mini-Hot-Spot des Rennens, mit TV-Kameras, die live übertrugen. Mit Sprintwertung auf dem Kopfsteinpflaster, immer ein schöner Werbeeffekt für die Stadt, mit Streckenfest und guter Laune. Kurzer Familienausflug mit dem Radl in die Altstadt, Beifall für die Sportler, freundlicher Applaus für die motorisierte Polizei, Blicke und Winken zum Himmel, wenn die Hubschrauber am Himmel auftauchten und der Höhepunkt nahte.

Im 60. Jahr offenbarte sich eher Tristesse am Straßenrand. Um die Mittagsstunde noch bestimmten Ordner in gelben Westen und Polizisten im üblich mattblauen Farbton das Straßenbild, mussten sich mit denen rumärgern, die sich mit ihnen herumärgerten, weil sie die öffentlichen Verkehrswege nicht wie gewohnt nutzen durften. Gefühlt die halbe Stadt abgesperrt über Stunden, nur zwei Schlupflöcher irgendwo im Randgebiet. Und nichts los am Straßenrand, nur hier und da ein paar Fans in der Feldbergstraße, der Homm-Kreisel kennt andere Belastungen, wenn König Fußball im Spiel ist. Die Sprintmeile zum Marktplatz, beidseitig mit Gittern abgesperrt, wie leergefegt, auch als die Hubschrauber schon dröhnten. Das öffentlich ausgeladene Publikum ist in einer Mischung aus Corona-Vorsicht und Beleidigtsein ausgeblieben, der 1. Mai am 19. September, das hat nicht so richtig funktioniert. Kein Hot-Spot nirgends.

Gegen 14.15 Uhr naht das Spektakel. Der kurze, knackige Höhepunkt des Rennens aus Sicht der Oberurseler Radsportfans. Mit dem üblichen Vorspiel der Polizei-Armada und den bunten Materialwagen, mit Kamerateams und zuletzt den Besenwagen für die Gestrandeten eine knappe Minute Aufregung. Die Handvoll Ausreißer, die kurz zuvor vorbeikamen, waren da mit ihren fünf Minuten Vorsprung auf die Spitze schon auf der Kanonenstraße Richtung Sandplacken unterwegs, das Feld der rund 140 fliegenden Männer auf ihren surrenden Rädern personell immer noch stärker besetzt als die Zuschauerreihen hinter den Gittern. Das gab’s auch noch nie in all den Jahren.

Und der Lokalmatador? John Degenkolb? Wo ist er in der bunten Masse, die wie ein Schlangenwesen den Marktplatz hinaufstrebt, so schnell, wie der normale Radler den Altstadthügel nicht einmal hinunterbrettert? Einer hat ihn gesehen, der andere hat ihn nicht gesehen, die Handyfilme werden daheim ausgewertet. Wo ist John Degenkolb? Längst durch, heißt es unter Kennern der Szene. Der Mann in Rot-Schwarz mit der Startnummer 11 war dabei, bereit für den Heimsieg. Für den zweiten Triumph nach 2011 reicht es am Ende nach 187 Kilometern aber nicht, der Oberurseler Degenkolb verliert den Zielsprint gegen den Belgier Jasper Philipsen und wird wie 2019 Zweiter im Finale der Supersprinter. Und offenbart später ein bewegtes Gemüt „zwischen Stolz und Frust“. Darf sich aber als Sieger der Herzen fühlen.

Das waren auch ein bekannter Oberurseler Triathlet, der im vollen Outfit mit seinem kleinen Sohn als „Beifahrer“ knapp hinter den Stars dem Marktplatz hinaufstrebte. Da stieg die Lautstärke auf der Beifallskala des Publikums noch einmal mächtig an.

Weitere Artikelbilder



X