Live am Lagerfeuer im „Studio Orschel“

Im „Studio Orschel“ geht es ungeschminkt zur Sache. Da muss der Mann schnell noch einen Schweißtropfen wegwischen, bevor die Kamera läuft. Spot on, das Licht fällt auf die Gäste Bärbel Müllerleile und Martin Schultheiß, dezent im Blickfeld Michael Behrent (rechts) und Dirk Müller-Kästner. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Das Lagerfeuer muss brennen. Und die Menschen müssen miteinander reden. Über Kunst, Kultur, über ihr „Orschel“ und seine Merkwürdigkeiten. Auch über das Kulturleben in harten Corona-Zeiten. Das symbolische Lagerfeuer brennt ab sofort immer montags ab 20 Uhr in der Gaststube des Vereins Windrose. Was dort im „Studio Orschel“ erzählt wird, ist weltweit live zu hören und zu sehen. Bei der Premiere in dieser Woche waren eine weitgereiste Ärztin mit schwäbischen Wurzeln und ein promovierter Physiker mit klassischer Klavierausbildung zu Gast.

Die Idee war schnell gestrickt, wie das manchmal so ist, wenn sich zwei begegnen, die ähnliches im Sinn haben. „Es darf nicht noch mehr kaputtgehen“, hat sich Michael Behrent gedacht. In dieser Zeit ohne normales Leben, ohne jegliche Veranstaltung, ohne Begegnungen. Natürlich hat Dirk Müller-Kästner da sofort zugestimmt. Der Vorsitzende des Vereins Kunstgriff hat mit seinen Leuten trotz Corona einen „Orscheler Sommer“ aus dem Hut gezaubert, der viele Menschen erfreut hat. Michael Behrent, ein Motor der „Windrose“ und Vizevorsitzender des internationalen Vereins, brachte den Vorschlag vom Stammtisch-Lagerfeuer ins Gespräch, schließlich droht ein langer Winter mit vielen kalten, einsamen Abenden.

Gemeinsam haben die beiden Männer mit dem Faible für Live-Veranstaltungen binnen zwei Wochen das „Studio Orschel“ entwickelt, eine Live-Plattform für Kunstschaffende, Kulturfreunde, Gastronomen und Vereinsmenschen. „Eine Mischung der Zuversicht“ erhofft sich Michael Behrent, eine „locker-flockige Runde mit durchaus auch ein paar Kunst-Stückchen“ erwartet Dirk Müller-Kästner, wenn das vom Gesundheitsamt abgesegnete Hygienekonzept das hergibt. Und wenn es denn ein Ständchen draußen vor dem Fenster der Gaststube in der „Seufzerallee“ ist, wie die kleine Wegeverbindung am Urselbach im Volksmund früher genannt wurde. Alles zählt, was die dunkle Zeit ein bisschen fröhlicher macht und belebt. Die Montagsrunde um 20 Uhr soll schon in der kommenden Woche zur Tradition werden. Mit jedem Mal neuen, spannenden, inspirierenden Gesprächspartnern, die was zu erzählen haben.

Grüße aus „Bärbels Sauna“

Licht aus, Spot an, Kamera läuft, Ton ab, pünktlich zur Tagesschau ist das „Studio Orschel“ erstmals live auf Sendung. „Wir sind im Internet“, freut sich Michael Behrent beim Blick aufs Tablet. Der erste aufmunternde Kommentar ploppt schnell auf, ein stadtbekannter Oberurseler grüßt aus „Bärbels Sauna“. Wenn’s mal läuft, soll sich das Publikum auch mit Fragen einklinken dürfen. Windrose-Wirt Paolo ist in der portugiesischen Heimat in selbstgewählter Quarantäne, am rot eingedeckten Stammtisch vor dem Tresen sitzen die Protagonisten der Premiere und grüßen Oberursel und die Welt. Improvisiert auf einzelnen Zetteln an einer vor dem Tresen gespannten Wäscheleine die Buchstaben, die zum Logo des neuen Formats werden sollen: „Studio Orschel“. Eine Institution im „Orscheler Winter“? Die Premiere haben immerhin 169 Zuschauer ganz oder teilweise miterlebt, ohne Promotion außerhalb des Freundeskreises der Erfinder.

Kultur in Corona-Zeiten mit Zwang zum Verzicht und wachsender Tendenz zum Live- stream. Für alle Neuland, das ist spürbar, macht aber genau die erhoffte authentische Atmosphäre aus. Auf Seiten der Moderatoren Michael Behrent und Dirk Müller-Kästner, der sich die Kunstgriff-Arbeit am Ort des Geschehens trotz Bürgermeisterkandidatur nicht nehmen lässt. Auf der anderen Seite des großen Tischs, auf dass die korrekten Abstände immer eingehalten werden: Bärbel Müllerleile und Martin Schultheiß. Vier Kameras haben Chef-Techniker Angus Foxley und seine Frau Karen aufgebaut, wie im richtigen Leben soll der Blickwinkel jederzeit geändert werden können, um die Gäste gut in Szene zu setzen. Der Windrose-Gastraum, ein heimeliger Ort, an dem sich entspannt plaudern lässt. Wer auch sonst bisweilen auf der Bühne steht, fühlt sich im Wirtshaus-Ambiente schnell wohl. Ratzfatz ist die geplante Stunde um, und es gibt noch so viel zu erzählen.

Zivi-WG in den 70er-Jahren

Zum Glück ist der Live-Act für die potenziellen Fans des „Studio Orschel“ keine Pflichtaufgabe, die Premiere und alle weiteren Folgen können auch zeitversetzt geschaut werden, bis auf Weiteres auf dem youtube-Kanal der Windrose. Wer mehr darüber erfahren möchte, wie aus der Hauswirtschafterin und Pflegeassistentin Bärbel Müllerleile eine Notfallärztin mit Faible für Einsätze bei den „German Doctors“ in aller Welt geworden ist und warum sie nie aus Oberursel weg will, der ist auch im Rückblick richtig im „Studio Orschel“. Oder wer wissen will, wie es den Physiker und heutigen „Resteverwerter“ im Buchhandel, Martin Schultheiß, zum christlich inspirierten Kabarett im „Duo Camillo“ verschlagen hat und wie es bisweilen in einer WG von Zivis in den später 70er-Jahren zuging. „Man wächst so an in Oberursel, und irgendwann kommt man nicht mehr weg“, verrät Michael Behrent nebenbei, der seit 30 Jahren am Urselbach heimisch wird. Am Lagerfeuer darf alles erzählt werden, man darf gespannt sein, wer am kommenden Montag zu Gast im Studio ist.

Zu sehen ist das „Studio Orschel“ im Internet unter www.youtube.com/Studio Orschel.

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