Der Mann an der Ecke

Er gehört zum vertrauten Bild. An jedem Tag außer dem Wochenende sitzt er da an der Ecke in der Vorstadt. Seinen Pappbecher in der Hand fordert die Passanten diskret zu einer kleinen Gabe auf. Und wer ihn fragt, wie es ihm geht, bekommt meist ein „schwäär“ zur Antwort. Dabei wirkt der Ungar nicht einmal unglücklich. Der Mittsechziger hat warme Augen, und es geht etwas Freundliches von ihm aus. Mancher stoppt kurz bei ihm, wirft eine Münze in den Becher und hält ein kleines Schwätzchen mit ihm. Nur wenn ein Musikant sich in der Nähe postiert und ihm das Geschäft verdirbt, verdüstert sich sein Gesicht. Doch es hellt sich auf, wenn man ihm vorschlägt, selbst Csárdás-Musik zu machen. Und ein wenig Wehmut ist auch dabei. An nasskalten Tagen im November zeigt er auf seine zerschlissenen Schuhe. Kein Wunder, dass er friert. Wir überlegen, wie wir ihm helfen können. Am anderen Tag zeigt er uns glücklich zwei nagelneue beige Stiefel. „Deutsche Frau gekauft“, sagt er in seinem begrenzten Deutsch. Dann fährt er mit dem Bus heim nach Budapest. Der Platz an der Ecke wirkt merkwürdig leer. Die Zeit verstreicht, drei, vier Monate gehen ins Land. Und mancher fragt sich: Was ist mit ihm, bleibt er in Ungarn, ist er vielleicht krank? Oder kommt er zurück, wenn es wärmer ist? Und dann sitzt er wieder an seinem gewohnten Platz, begeht sein Comeback an einem kalten, windigen Regentag. In seinem Becher glänzen heute auffällig viele Silbermünzen. Es haben sich wohl noch mehr gefreut, dass er wieder da ist, der Mann an der Ecke. (haf)



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