Mitten auf dem Rathausplatz spielt sich eine Tragödie ab

König Ödipus (Sven Kube) sucht auf den Treppenstufen liegend Hilfe beim Psychiater (Jacques-Olivier Marfels) Foto: bg

Oberursel (ow) Besucher bleiben neugierig stehen und schauen interessiert zu. Die Stadthalle wird zum Königspalast von Theben. Vor dem Eingang zum Restaurant, auf den Treppenstufen, rund um den Pontobrunnen und auf dem Platz wird Theater gespielt. Es sind Proben zum antiken Drama um den König Ödipus. Der mit dem Komplex.

Ihm wurde vom Orakel offenbart, dass er seinen Vater ermorden und seine eigene Mutter heiraten würde. Daraufhin war er aus seiner Heimat Korinth geflohen und ist jetzt König von Theben. In der gerade geprobten Szene sucht Ödipus Hilfe beim Psychiater (Jacques-Olivier Marfels). Der fragt nach dem Verhältnis zu seiner Mutter und reimt Sex auf Komplex. Der König ist erschüttert. Ein blinder Seher hatte ihm Schreckliches offenbart, er habe seinen Vater Laios erschlagen. Man weiß es ja, dieses Stück hat kein Happy-End. „Das ist das Blöde an ’ner Tragödie“, reimt der Musikus – eine namenlose Säulenfigur irgendwo vor dem Palast von Theben bedeutungsschwanger. Gero Teufert ist ein brillianter Gitarrenspieler und hervorragender Sänger. Er begleitet auch die Demonstranten mit fetzigen Gitarrenklängen, die dann den Platz stürmen. Der antike Chor wird hier zur Demogruppe, die Plakate schwenken und „Freiheit statt Pest – die Diktatur gibt uns den Rest“, skandiert. Der antike Stoff von Sophokles wurde in der hier gezeigten Neudichtung von Bodo Wartke kräftig entstaubt, mit schräger Musik und Bezug zur Gegenwart garniert. Mal in gereimter Form, mal mit Kraftausdrücken, in der Wortwahl ist der Autor nicht gerade zimperlich.

Regisseur Volker Zill sitzt entspannt auf einem Stuhl neben dem Brunnen und schaut aufmerksam zu. Der Text sitzt, die Akteure spielen mit Feuer und Leidenschaft. Es treten auf Grit Hoh als Iokaste (Königin von Theben), Sven Kube ist Ödipus (der neue König von Theben), als blinder Seher Gerhard Maas, Daniel Silberhorn in der Rolle des Kreon (Bruder der Iokaste und Statthalter von Theben). Außerdem Rudolph Weber als Laios (König von Theben) Hirten, Leibwächter, ein Pestwölkchen, das Orakel von Delphi und die sagenumwobene Sphinx.

Die Techniker Sven Hochwitz und Thomas Bingenheimer haben alles im Griff. Auf allen vier Ecken des Platzes haben sie Lautsprecherboxen aufgehängt, alles ist gut zu verstehen. Zu später Stunde werden Scheinwerfer den Platz ausleuchten. Der Backstagebereich für das gesamte Ensemble ist in einem gegenüberliegenden Garten aufgebaut. Alle sind hier mit Herzblut bei der Sache. Volker Zill und die gesamte Truppe vor und hinter der Bühne brannten darauf, endlich wieder zu spielen. Seit im Frühjahr 2020 die Aufführung von König Ödipus im Theater im Park coronabedingt abgesagt werden musste, scharrten sie mit den Hufen. Geplant war damals, alles um ein Jahr auf den Sommer 2021 zu verschieben. Als im März der KSfO als Veranstalter sich mit dem Regisseur zu einem Gespräch traf, konnten die Kulturverantwortlichen schweren Herzens bei der Coronalage wieder kein grünes Licht für die Veranstaltung im Park der Klinik Hohe Mark geben. Das Risiko zu hoch, die ganze Logistik im Park aufzubauen und dann vielleicht doch nicht spielen zu dürfen. Bis Volker Zill die einfache Frage stellte „Warum spielen wir nicht hier auf dem Rathausplatz?“

Theater mitten in der Stadt – eine zündende Idee, die unglaublich gut passt und obendrein in atemberaubender Geschwindigkeit in die Tat umgesetzt wurde. Wie der kreative Regisseur erklärt, war das möglich, weil das Ensemble unbedingt an dem Projekt festhielt, alle wollten den König Ödipus auf die Bühne bringen. Im vergangenen Jahr hatten sie, nachdem Besetzungsliste stand, mit viel Elan die Proben aufgenommen. Auch nach der Absage war man weiter in Verbindung geblieben. Seit Anfang des Jahres hatten sie sich alle auf eine Aufführung vorbereitet, virtuell per Zoom geprobt und die Texte einstudiert. Und dann ging alles sehr schnell.

Was die Zaungäste während der Probe zu sehen bekamen, war mitreißendes Theater. Das Platzangebot zwischen Stadthalle und Rathaus ist allerdings nicht zuletzt wegen der Corona-Auflagen eingeschränkt. „Wir müssen die Stühle entsprechend den angemeldeten Besuchergruppen aufstellen, für jede Aufführung also neu gruppieren. Auf dem Platz können wir etwa zwischen 80 und 130 Personen unterbringen“, erläutert Helen Schroth, die Projektleiterin des KSfO.

Durch die Nutzung des Rathausplatzes als Spielfläche entfällt der Aufbau einer Bühne, der Tribüne, das Gebäude der Stadthalle ersetzt das Bühnenbild. Nie waren die Theaterleute so nah am Publikum. Die kreative Idee, aus der Not geboren, entwickelt sich zum Glücksgriff. Theater mitten in der Stadt – das birgt unglaubliche Potenziale. Zum ersten Mal in der Geschichte des TiP wird ein Stück nicht im Park aufgeführt, sondern „auf‘m Platz“. Das kann sich zu einer Erfolgsgeschichte entwickeln.

Das nächste Novum: Das Stück wird im Rahmen des Orscheler Sommers gezeigt und kostet daher keinen Eintritt. Premiere ist am Sa,mstag, 10. Juli, um 20 Uhr. Weitere Aufführungstermine sind am 25. Juli und 1. August, jeweils um 15.30 und 20 Uhr. Nach 70 Minuten gibt es eine Pause von 30 Minuten, die Aufführungsdauer beträgt etwa zwei Stunden. Das Catering übernimmt der Verein Windrose. „Das Publikum hat nur auf den Startschuss gewartet. Nach Bekanntgabe der Aufführungstermine waren alle Plätze heiß begehrt und in Windeseile vergeben“, so Helen Schroth.

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