„Wir sind noch da, wir leben noch“

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Denn sie wissen, was sie tun. Alle, die in diesen Tagen und Wochen ihrem Job und gleichermaßen ihrer Berufung nachgehen und im Pflegedienst unterwegs sind, wissen um die Gefahr bei diesem Tun. Für sich selbst und für diejenigen, für die sie ins Alten- und Pflegeheim zur täglichen Arbeit kommen oder ihre Tasche packen, um Menschen zu Hause und im heimischen Umfeld zu betreuen.

„Ihr wisst, wo ihr arbeitet“, sagt Christiane Rink von der Heimleitung im Traute-und-Hans-Matthöfer-Haus der Arbeiterwohlfahrt manchmal zu den über 100 Mitarbeitern. Sie können sich aufeinander verlassen, auch bei Kleinigkeiten, etwa die Fahrstühle im Haus nicht mehr zu nutzen. Immer im Fokus, „dass wir das über die Runden bringen müssen“. Und dabei alle viel Verantwortung tragen, gegenüber sich selbst und den Betreuten. „Es ist großartig, was die leisten“, sagt Edeltraud Lintelow, die Leiterin der Caritas Sozialstation Pflege und Betreuung im Hochtaunus. Von der Zentrale in der Hohemarkstraße und der Zweigstelle in Königstein brechen ihre rund 50 Leute täglich auf, um Dienst am Menschen in der häuslichen Pflege zu leisten. Auch sie wissen, was sie tun. Aber: „Wir müssen Risiko leben“, sagt Edeltraud Lintelow.

Heimpflege und ambulante Pflege

Zwei Arbeitsfelder, in denen viele Frauen und Männer tagtäglich bei der Arbeit intensiver als viele andere mit der Bedrohung durch das Coronavirus leben, sind die Heim- und ambulante Pflege. „Alle Mitarbeiter von der Putzkraft bis zur Leitung tragen Schutzmasken.“ Eine klare Sache für Christiane Rink, „wir gehen damit rein und raus.“ Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, das weiß auch hier jeder. Aber sie versuchen alles, das Risiko einer Ansteckung zu minimieren. Der selbst verfügte Besuchsstopp am 13. März war nur ein Anfang. Nur Ärzte und Krankenfahrdienste dürfen ins Haus, jeder wird auf einer Liste eingetragen. Die Bewohner bleiben fast alle im Haus, Parkplatz-Treffen mit Angehörigen, die andernorts kolportiert werden, gibt es in der Kronberger Straße nicht.

„Wir haben Superangehörige“, dafür würde sich Christiane Rink verbürgen. Auch diese haben den „Osterbrief“ bekommen, der alle auf „Zusammenhalten in einer schweren Zeit“ einschwören soll. Mit all den harten Regeln, die dazu nötig sind. Der zentrale Speisesaal ist geschlossen, die Bewohner nehmen ihre Mahlzeiten in den jeweiligen Wohnbereichen ein. Teilweise auch in ihren Zimmern oder im Aufenthaltsbereich, damit nur eine Person am Tisch sitzt. Eine Info-Telefonkette zu den Angehörigen wurde installiert, Heimleitung und Mitarbeiter „rufen Familienmitglieder der Bewohner aktiv an“, so Rink. Einkäufe werden auf Wunsch erledigt, Angehörige dürfen Dinge am Eingang abgeben. Den „emotionalen Kraftakt“ der Trennung müssen alle bewältigen.

„Jeder ist sich der Verantwortung bewusst“, sagt auch Beate Lempp, Leiterin im Haus Emmaus der Gesellschaft für diakonische Einrichtungen, über ihr Personal und ihre Bewohner. Und spricht von „Gesamtverantwortung“ aller Beteiligten. Außengänge werden reduziert, ein ehrenamtlicher Einkaufsdienst besorgt zweimal die Woche das Nötigste aus der Stadt. Anrufe werden mit dem Tablet geführt, so sieht man sich wenigstens manchmal. Und gemeinsame Aktionen sollen das Gemeinschaftsgefühl stärken. „Selbst einige 90- bis 100-Jährige haben bei der Regenbogenaktion mit dem Motto ‚Alles wird gut‘ mitgemacht“, so Beate Lempp. Die Jüngsten und die Ältesten, im Kindergarten und im Seniorenheim. Ein Höhepunkt: Am „Osterdienstag“ spielten junge Musiker des Jugendsinfonieorchesters Hochtaunus im Garten auf, die Bewohner konnten das Konzert von ihren Balkonen aus erleben.

Singen und Musik, „um den Humor nicht zu verlieren“, das kennen sie auch im Haus der Arbeiterwohlfahrt. Eine Opernsängerin und ein Saxophonist der Kammeroper Frankfurt kamen auf ein kleines Konzert im Freien vorbei, ein spontan formierter Mitarbeiterchor singt und spielt jeden Tag um 10 Uhr in der Zufahrt und um 14 Uhr auf der Gartenseite auf. Ein paar Lieder nur, eine schöne Routine schon, ein Highlight für manche Zuhörer, wenn der Klassiker „Rote Lippen soll man küssen“ intoniert wird. „Die Bewohner sind mit im Boot, wir sind näher zusammengerückt“. So fühlt sich das für Christiane Rink an in Zeiten, wenn man Abstand halten soll. Der großzügige Garten und der bisher ziemlich großzügige Frühling helfen, den gefürchteten Lagerkoller zu vermeiden. Im Garten hängen laminierte Zettel in Augenhöhe an Ästen, animiert wird zu Bewegungsspielen und zum Denksport. Alle Aktionen sollen einen und auch untereinander zeigen: „Wir sind noch da, wir leben noch.“

Jeder Patient ist ein Neustart

Das Team der Caritas ist guter Dinge. Gut geschult, läuft die ambulante Pflege auch in diesen Krisenzeiten routiniert ab – und doch unter besonderer Vorsicht mit noch einem bisschen mehr Disziplin in allen Arbeitsschritten. Hände waschen, Handschuhe wechseln, Desinfektion, Schutzmaske, das gehört auch sonst bis auf die Maske zum Standardprogramm. Nach vielen Absagen zu Beginn der Krise sind „die Touren nun etwas entzerrt“, so Edeltraud Lintelow. Rund 250 Menschen werden trotzdem täglich noch umsorgt. Ein bisschen weniger Eile, ein bisschen weniger Hetze als sonst, „jeder Patient ist ein Neustart“. Luft für einmal mehr Desinfektion im Auto, Luft aber auch für wenigstens ein kurzes Gespräch. „Ganz wichtig gegen Vereinsamung“, sagt Lintelow, die fehlenden sozialen Kontakte gerade bei den so genannten Risikogruppen, das sei „schon traurig“. Die eigenen Risikogruppen hat die Caritas aus dem Pflegeteam rausgenommen, Büroarbeiten können auch zu Hause erledigt werden. Und Kontaktsperren können eingehalten werden. „Die sind alle sehr brav, das ist drin im Kopf“, weiß die Chefin.

Tägliche Gesangseinlage: Morgens wird im Hof des Traute-und-Hans-Matthöfer-Hauses der Awo zu den Fenstern hinauf gesungen, mittags ist Showtime auf der großen Terrasse zwischen Haupthaus und weitläufigem Garten. Auch beim Singen, Musizieren, Klatschen und Winken mit den Bewohnern auf den Balkonen wird der korrekte Abstand eingehalten. Foto: js

Von der Basisstation in der Hohemarkstraße schwärmen die Pfleger der Caritas täglich gut gelaunt und mundgeschützt aus, um die ambulant gepflegten Menschen in ihren eigenen vier Wänden zu umsorgen. Foto: js

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