Pendeln zwischen Leistung, Spaß und der Lust, sich einzubringen

Oberursel (agl). Ein schöner Holzbau in warmen Farben, gegenüber ein schmalerer Holzbau, große Fenster. Ein Blick hinein: Da stehen Werkbänke und ordentlich aufgereiht das Holzwerkzeug. Es ist kaum übersehbar die Schreinerwerkstatt der Schule. Die Sonne tut ihr übriges dazu, sie scheint und scheint an diesem Herbsttag Anfang November. Das macht die ganze Atmosphäre noch einen Tick harmonischer. Da wäre noch dazu der Schulhof mit den Holzbalken zum Klettern. Ein kleiner Junge probiert gerade einen Tretroller aus. Er scheint selbstversunken. Moment mal, bitte. Ist das hier alles inszeniert oder etwa echt? Eins sein mit sich, den richtigen Flow fühlen beim Spielen, kein Handyklingeln weit und breit. Das ist es doch, was Rudolf Steiner, Ideengeber und Übervater des Waldorfschulenkonzepts wollte.

Beim Hineingehen kommt gleich der aufmerksame Schulleiter entgegen. „Frühstücksdirektor“, so bezeichnet er sympathisch bescheiden sich selbst, als er sich vorstellt. Der große Mann mit Brille und Anzug lächelt ein offenes sympathisches Lächeln, und wenn er ins Erzählen kommt, dann stoppt ihn so schnell nichts mehr. Einmal geht es schließlich darum, heute seine Schule vorzustellen, und seiner authentischen Begeisterung macht er Luft mit einer wahren Informationsflut. Aber die hat es in sich. Die ersten Grundschuljahre verbringen die Waldorfkinder in schöner Umgebung ohne rechteckige Räume. Die Architektur im Innern des Baus wird möglichst harmonisch und sanft gestaltet. Mit viel Holz, Korbsachen und in angenehmem Farbspiel gehalten, nehmen die Räume jeden Besucher gleich für sich ein. Hier zu lernen, das wäre mal was. Zwei begeistert wirkende Mütter, die gerade im Gespräch sind mit einer der Grundschullehrerinnen der Schule, reden sich in die schönsten Vorstellungen hinein: „Ich möchte gern, dass mein Kind nicht stupide auswendig lernen muss, sondern mit Spaß lernt“, so die eine. Da grätscht die Pädagogin doch mal dazwischen. Leise lächelnd und an die Realität anknüpfend, widerspricht sie nachsichtig: „Also, auswendig lernen und etwas lernen mit ein wenig Disziplin müssen die Kinder hier schon auch.“

Wie auch sonst soll es gehen, dass am Ende der Abiturjahrgang immer auch den hessischen Schnitt halten kann. Im vorigen Jahr lagen die Waldorfschüler sogar eine halbe Note darüber. Zwölf bis 19 Kinder fasst die Oberstufe, und es werden alle beliebten und natürlich auch alle relevanten Leistungskurse angeboten: Mathe, Deutsch, Englisch, Biologie, Geschichte und sogar Erdkunde. Am Ende fahren alle in die Nähe von Venedig zum Abschluss. Sie übernachten in Punta Sabbioni, etwa 40 Minuten vom venezianischen Zentrum entfernt, in Zelten und Hütten und erkunden für eine knappe Woche die mit Kunst- und Kulturgütern übervolle Stadt.

Mit 330 Schülern von Klasse eins bis 13 ist die Oberurseler Waldorfschule die kleinste in Deutschland. Und fast möchte man sagen, möglicherweise ist sie auch gerade deshalb die idyllischste. Dennoch gelingt es, mit einer großen und aufwendigen Inszenierung ein fast professionelles Theaterstück auf die Beine zu stellen. Mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ – Jack Nicholson at his best war vor Jahrzehnten in der Hauptrolle der amerikanischen Klassiker-Verfilmung zu sehen – , das an drei Abenden begleitend zum Tag der offenen Tür aufgeführt wurde, hat die Schulgemeinde ihrem pädagogischen Anspruch Ausdruck verliehen. Er pendelt stetig und offenbar sehr ausgeglichen zwischen Leistungsnachweis, Spaß am Einbringen der eigenen Persönlichkeit und der Lust, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.



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