Schöne Folgen einer Dienstverpflichtung

Gelebte Partnerschaft seit fast 50 Jahren: Bei einer der ersten Reisen nach Ursem im Auftrag der damals noch selbstständigen Gemeinde Stierstadt ist Hubert Kraus auf seine Ria Ursem aus Ursem gestoßen, 1974 haben sie geheiratet. Ihre Kinder Tanja und René (v. r.) begleiten die Partnerschaft so intensiv wie die Eltern. Die Windmühle ist das erste holländische Gastgeschenk, mitgebracht beim ersten Besuch einer holländischen Delegation im Taunus zur Sondierung der Lage im Herbst 1969. Auch die buntbemalte Milchkanne ist ein Gastgeschenk, das die Familie Kraus wie vieles mehr hütet. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Nie konnte irgendetwas die „wunderbare Harmonie“ oder diese besondere „Erfolgsgeschichte einer Freundschaft zwischen Gemeinden“ über Jahrzehnte ernsthaft stören. Erst mit Covid-19 ist dies der Fall, die 50-Jahre-Jubiläumsparty mit traditioneller Teilnahme am Weihnachtsmarkt musste samt Markt am zweiten Adventswochenende abgesagt werden. Am 11. Dezember 1971 wurde der Partnerschaftsvertrag zwischen Ursem und Stierstadt unterzeichnet, das Geburtstagsfest wird nun vielleicht an Himmelfahrt 2022 nachgefeiert.

Wer spricht schon französisch in Stierstadt? Diese Frage haben sich weise Männer in der einstigen Gemeindevertretung von Stierstadt gestellt, als sie Ende der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf Brautschau gegangen sind. Also eine Partnerschaft gesucht haben mit einem kleinen Ort so groß wie Stierstadt irgendwo im nahen europäischen Ausland. „Alles hat nach Frankreich geschaut“, erinnert sich Hubert Kraus, damals so etwas wie ein Adlatus von Altbürgermeister Heinrich Geibel im Rathaus. Der hat dem jungen Verwaltungsangestellten der damals noch selbstständigen Gemeinde die Anbahnung der Kontakte mit einem knappen „Du machst das“ aufgedrückt. Kraus hat das ordentlich gemacht, den Auftrag zu vollster Zufriedenheit seines Chefs erfüllt und im weiteren Verlauf der beginnenden Partnerschaft viel zu deren weiterer Geschichte beigetragen. Sein Einfluss auf jene Städtepartnerschaft zwischen Ursem und Stierstadt ist in allen historischen Schriften dazu vermerkt und wird es immer bleiben.

Es wurde eine deutsch-holländische Freundschaft, weil Frankreich nicht gewünscht war, das hatten ja die Oberurseler mit Epinay-sur-Seine schon. Der Kontakt zu Ursem kam über den Verschwisterungsausschuss des Rates der Gemeinden und Regionen Europas in Paris zustande. Die damals ebenfalls noch selbstständige niederländische Gemeinde Ursem fand das Angebot verlockend, das Städtchen liegt etwa 40 Kilometer nördlich von Amsterdam zwischen Ijsselmeer und Nordsee. Dass Stierstadt zum Ortsteil von Oberursel degradiert wurde und Ursem noch ein paar Jahre später in Wester-Koggenland eingemeindet wurde, sind nur politische Fußnoten, die keinen gestört haben.

Wichtiger sind die vielen positiven Fußnoten, die in der Folge verbrieft sind. Etwa die, wie die offizielle Holländer-Delegation beim ersten Besuch für Sondierungsgespräche beim „Hirschwirt zum ersten Mal Handkäs gegessen haben“, woran sich der heute 72-jährige Hubert Kraus noch erinnert. Eine Windmühle im einigermaßen handlichen Format hatten sie als Gastgeschenk mitgebracht, mit Handkäsgeschmack auf der Zunge sind sie zurückgefahren. Ob Erzählungen davon die erste Triebfeder zur Ankurbelung der Partnerschaft waren, wer weiß das schon. Wohl aber kamen nach der ersten Stierstädter Visite an Himmelfahrt 1970 in Ursem zum ersten Gegenbesuch gleich mal 108 Holländer nach Stierstadt. „Holländer, was is’n des?“ haben da wohl einige noch gefragt, als Kraus durchs Dorf gelaufen ist, um Privatunterkünfte klarzumachen, denn das war von Anfang an die Devise, so sollte es sein und immer bleiben. Dem Vernehmen nach hat der Adlatus des letzten Bürgermeisters von Stierstadt damals 14 Tage Sonderurlaub bekommen, um für alle Gäste ein Privatquartier zu besorgen. „Heute weiß fast jeder Stierstädter, was ein Holländer ist und wo Ursem liegt“, hat der aktuelle Vorsitzende des Hollandausschusses schon 2012 bei seiner Wahl festgestellt.

Auch so eine Fußnote, die erste Fahrt im Frühling 1970, eine 50-köpfige Gruppe hat sich auf die etwa 490 Kilometer lange Reise nach Ursem gemacht. „Bereits an der Grenze wurden die Gäste erwartet und sicher nach Ursem geleitet“, hat Hubert Kraus mal in einer Jubiläumsschrift berichtet. Ab dem Rathaus ging es damals unter Begleitung des örtlichen Musikcorps entlang mit Fahnen geschmückter Häuser und unter Teilnahme zahlreicher Ursemer zum Gasthaus „De Landbouw“. Ja, so war das damals.

Die offiziellen Partnerschaftsverträge wurden im Dezember 1971 in Stierstadt und am 13. Mai 1972 in Ursem mit feinen Urkunden besiegelt. In der Gaststätte „Waldlust“ (beim Krämer) überreichte Bürgermeister de Niijs „dem lieben Kollegen Heinrich Geibel“ 2000 holländische Tulpenzwiebeln“, von jedem Ursemer eine. Zwei Tage wurde gefeiert, geschickt eingebettet darin wurde die Grundsteinlegung für das neue Feuerwehrhaus. Zur Unterzeichnung des Vertrags in Holland reiste Heinrich Geibel letztmals in offizieller Mission als Bürgermeister, ein paar Wochen zuvor wurde die Eingemeindung Stierstadts nach Oberursel vollzogen. Im „Handgepäck“ brachte das Team um Geibel einen hölzernen Laufbrunnen und eine Holzsitzbank nach Ursem.

Es hätte vielleicht eine ganz normale Städtepartnerschaft mit Besuchen hier und Gegenbesuchen dort werden können, mit Begegnungen von Sportvereinen und Kulturschaffenden, beim Weihnachtsmarkt im Taunus oder Tulpenfest in Holland, ab und an offiziellen Treffen der politischen Elite, wie auch immer. Dass es nicht so geworden ist, kann mit Sicherheit auch der zweiten Dienstverpflichtung des jungen Verwaltungsangestellten Hubert Kraus zugeschrieben werden. Deren Folgen sind noch heute sichtbar. Denn der Mann aus Stierstadt kam einer jungen Handballspielerin aus Ursem näher. So nah, dass 16 Monate später die Hochzeitsglocken in St. Bavo für das erste Stierstadt-Ursemer Paar läuteten. Gelebte Partnerschaft nun schon seit fast 50 Jahren, sie setzt sich fort in vielen langjährigen Freundschaften, inzwischen haben Sohn und Tochter von Hubert Kraus und Ria Ursem die Verantwortung für das weitere Gedeihen der freundschaftlichen Bande übernommen.

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