Unterhaus-Atmosphäre im Georg-Hieronymi-Saal

Im regen Brexit-Austausch: Ulrich Müller-Braun und Nicholas Jefcoat, der seit September 2018 nicht nur britischer, sondern auch deutscher Staatsbürger ist. Foto: pit

Oberursel (pit). Seit Wochen und Monaten steht das Thema „Brexit“ nicht nur in den Nachrichtensendungen auf der Tagesordnung ganz oben. Auch die unterschiedlichsten Talk-runden haben sich seiner angenommen. Mehr als naheliegend, dass mit Blick auf die Partnerstadt Rushmoor auch der Verein zur Förderung der Oberurseler Städtepartnerschaften (VFOS) Diskussionsbedarf sieht. In der Reihe „Hallo Nachbar“ hat er Nicholas Jefcoat, Chairman der Deutsch-Britischen Gesellschaft Rhein-Main, eingeladen, um seine persönlichen Einblicke und Ausblicke zu geben.

Doch zunächst war es an Bürgermeister Hans-Georg Brum, sich mit ein paar begrüßenden Worten an Verein und Auditorium zu wenden. „Die Verbindungen zu Rushmoor sind herzlich, und obwohl dort 60 Prozent der Bürger für den Brexit gestimmt haben, hat unsere Beziehung nicht darunter gelitten“, stellte der Rathauschef heraus und blickte gespannt den Einschätzungen von Nicholas Jefcoat entgegen. Auch Moderator Ulrich Müller-Braun blickte einem kurzweiligen Abend mit interessanten Perspektiven entgegen und machte mit einem gebündelten Ausdruck des 598 Seiten starken Vertragsentwurf einmal optisch sichtbar, um was für ein umfangreiches Werk es sich da eigentlich handelt. „Damit kann man sich durchaus die Köpfe einschlagen“, lachte er und freute sich schon auf ein wenig Unterhaus-Atmosphäre im Georg-Hieronimy-Saal des Rathauses.

Nicholas Jefcoat blieb es überlassen, das Abstraktum „Brexit“ etwas in die Nähe zu rücken, wobei er seinen Blick zunächst auf die deutsch-britische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg richtete – und auf das Ergebnis des Referendums zum Beitritt Großbritanniens in die EU: „Damals waren 67 Prozent der Briten dafür.“ Ein Bild, das sich nun offenbar umgekehrt hat. Immerhin hatten sich im ersten Referendum vom 23. Juni 2016 insgesamt 51,9 Prozent für und 48,1 Prozent der Briten gegen einen Austritt aus der EU entschieden. Doch es seien viele Fehler gemacht worden, vieles sei nicht bedacht worden. Etwa, dass gleich Anfangs festgelegt wurde, was ausgeschlossen sei, oder die Zukunft der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland: „Viele Nordiren sind zu dem Schluss gekommen, dass sie im Falle eines Brexits lieber Iren als Briten sein wollen.“ Nicht allein die Parlamentarier befänden sich in einer schwierigen Lage. Land, Familien und Volk seien gespalten: „Die meisten wissen, dass der Brexit Nachteile mit sich bringt.“ Da nun das britische Unterhaus zum dritten Mal in Folge das Abkommen abgelehnt hat, durch das der Austritt Großbritanniens aus der EU geregelt werden soll, sprach sich Nicholas Jefcoat für ein zweites Referendum aus: „Viele Briten waren sich bei der ersten Abstimmung nicht bewusst, was der Brexit bewirkt.“ Wobei die Schotten womöglich eine Chance zur Selbständigkeit darin erblicken könnten: „Sie wollen ihren eigenen Weg gehen und werden die Möglichkeit ergreifen, wenn Europa sie akzeptiert und unterstützt.“

Brum interessierte sich mit Blick auf die in Oberursel beheimateten britischen Unternehmen wie Rolls Royce und Thomas Cook vor allem für die wirtschaftlichen Folgen. „Auf die Unternehmen und die Belegschaft kommen ganz sicher logistische Probleme zu“, meinte Jefcoat. Und auf die Nachfrage nach Großbritannien als „Singapur des Westens“ meinte der ehemalige Geschäftsführer der Bank of America: „Mit einer klugen Indus-triepolitik könnte das klappen.“ Und wie sieht er die Chancen bei einem zweiten Referendum? „Ich bin nicht ganz sicher, aber ich schätze, dass sich dann etwa 55 Prozent für den Verbleib in der EU aussprechen würden“, mutmaßte Jefcoat und fügte hinzu: „Alle, die beim ersten Mal für den Austritt stimmten, werden das dann auch wieder tun.“

Zuversichtlich zeigte er sich hinsichtlich der Zahlungsverpflichtungen Großbritanniens gegenüber der EU, denen gewiss nachgekommen werde, doch dass die britischen Landwirte vor immensen Problemen stünden, sei auch ziemlich sicher: „London hat ihnen zwar für die ersten zwei Jahre nach dem Austritt die gleichen Zuwendungen versprochen, die sie aktuell aus der EU bekommen, doch was anschließend sein soll, weiß man nicht.“

In seinen Augen müsste den Briten deutlicher gemacht werden, welch große Bedeutung die EU für sie habe: „70 Jahre Frieden als Errungenschaft der EU kommt dort überhaupt nicht an.“ Und so hoffte er, dass für alle Beteiligten neue Motivationen gefunden werden, die EU zu lieben. Vielleicht gelingt dies ja beim Abschluss der Reihe „Hallo Nachbar“ am Freitag, 10. Mai, um 19 Uhr, der die Überschrift „Europa – Wie steht es heute: Lust oder Frust?“ trägt.



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