„Verkehrsinnovationen brauchen zuerst gute Regeln“

Oberursel (ow). Ein Bündnis aus Verkehrs- und Umweltverbänden sowie lokalen Radentscheiden will die Zulassung eines landesweiten Volksbegehrens beantragen. Sie haben ein

Verkehrswendegesetz für Hessen erarbeitet, das geltendes Recht werden soll. In einem ersten Schritt des Verfahrens sammelt das Bündnis Unterschriften wahlberechtigter Bürger, um die Zulassung des Volksbegehrens formal zu beantragen. Die angestrebte „Verkehrswende Hessen“ betrifft alle Menschen.

Brigitte Buchsein ist seit frühester Kindheit blind und mit dem Blindenlangstock unterwegs. Sie ist ehrenamtlich in der Auferstehungs-Kirchengemeinde als Kirchenvorstand und Prädikantin engagiert, außerdem im Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen für Themen wie Mobilität im öffentlichen Raum aktiv. Sie berät Menschen, die neu von Sehbehinderung betroffen sind. Beruflich ist sie bei der Alten Leipziger als Software-Entwicklerin tätig. Andreas Beck hat Brigitte Buchsein nach ihrer Sicht gefragt.

Warum braucht Oberursel eine Verkehrswende?

Brigitte Buchsein: Oberursel braucht einen besseren ÖPNV und eine barrierefreie Verkehrsinfrastruktur. Ich lebe seit 24 Jahren in Oberursel und bin aufgrund meiner Sehbehinderung auf den ÖPNV und Fußverkehr angewiesen. Oberursel ist glücklicherweise gut mit U- und S-Bahn angebunden. Abends und an den Wochenenden jedoch sind die Verbindungen ausgedünnt. Aber auch tagsüber sind Querverbindungen etwa nach Bad Vilbel oder Eschborn schlecht. Das sind Orte, die eigentlich nicht weit weg, aber per ÖPNV von Oberursel aus schlecht erreichbar sind. Deswegen sind viele Mitbürger dann mit dem Auto unterwegs. Diese Möglichkeit habe ich so nicht.

Außerdem ist die fehlende Barrierefreiheit im Stadtgebiet ein Sicherheitsproblem: In manchen Situationen bin ich unsicher unterwegs, beispielsweise rund um die ehemalige Post, wo Blinden-Leitlinien auf dem Boden fehlen. So ist es nicht leicht, sichere Wege zu finden und nicht unbeabsichtigt gefährliche Stellen wie Straßen zu betreten. Auch die Ackergasse und Untere Haingasse sind für blinde Menschen sehr unsicher, weil eine orientierungsgebende Trennung zwischen Autostraße und Fußweg fehlt. Die Poller geben unklare Wege vor, und es tauchen zahlreiche Hindernisse (geparkte Autos) auf. Oder die Ecke Dornbach-Straße/Alte Leipziger: sehr viele Verkehrsnutzungen auf engem Raum – wenn man nichts sieht, ist es dort manchmal sehr chaotisch.

Die sehr belebte Adenauer-Promenade mit gemischten Verkehrsarten (Fuß- und Radverkehr) ist für Menschen mit Sehbehinderung problematisch, da eine Trennung von Fuß- und Radverkehr mit einem taktil wahrnehmbaren Trennstreifen fehlt. Auch weitgehend unstrukturierte Plätze wie der Epinay-Platz sind immer problematisch, egal ob der Platz leer oder marktgefüllt ist. Der Stock vermittelt Bodenbeschaffenheiten, und wenn das gut strukturiert ist, kann ich mich gut orientieren. Wenn Geschäftsauslagen auf den Markierungen platziert werden oder Markierungen fehlen, komme ich nicht selbstständig an mein Ziel. Manchmal schlage ich mich alleine durch, und manchmal bitte ich Passanten um Hilfe für schwierige Stellen.

Sie nutzen also gar kein Auto?

Buchsein: Bei längeren Wegen oder mit viel Gepäck lasse ich mich von Freunden mit deren Auto fahren.

Welches Teilziel des Volksbegehrens „Verkehrswende Hessen“ ist Ihnen besonders wichtig?

Buchsein: Von den genannten Zielen geht es mir vor allem um den Ausbau des ÖPNV. Das ist mir das Wichtigste, danach der Fußverkehr, in jedem Fall um Barrierefreiheit.

Warum ist der Status Quo diesbezüglich verbesserungsbedürftig? Besteht eine konkrete Belastung oder gar eine Gefahr für Sie?

Buchsein: Ich fühle mich weniger gefährdet als eher orientierungslos. Ich bin vergleichsweise überdurchschnittlich sicher im Straßenverkehr in der Gruppe der Sehbehinderten, viele andere Betroffene sind viel weniger aktiv und unterwegs. Oft entstehen Sehbeeinträchtigungen erst im fortgeschrittenen Alter, und dann ist die Neuorientierung mit dem Stock sehr schwer zu erlernen. Das bringt wahrscheinlich viele Sehbehinderte dazu, ganz auf eigene Wege zu verzichten. Das ist das Gegenteil von Inklusion!

Was hat sich in den letzten 12 Monaten diesbezüglich in Oberursel schon getan?

Buchsein: Dass überhaupt Bodenindikatoren in Deutschland verbaut werden, war eine echte Wende bei der selbstständigen Mobilität von Menschen mit Behinderung. Mittlerweile sind alle U-Bahn-Haltestellen barrierefrei, das lag unter anderem auch am Hessentag. Öffentliche Einrichtungen wie das Rathaus oder eben weite öffentliche Plätze sind für Sehbehinderte weiterhin sehr schwierig in der selbstständigen Orientierung.

Wer profitiert außer Ihnen noch, wenn das Volksbegehren in diesem Punkt erfolgreich ist?

Buchsein: Mehr ÖPNV: Davon profitieren letztlich alle Nutzer des ÖPNV, wahrscheinlich letztlich alle, auch wegen des Klimaschutzes. Ich habe in Karlsruhe studiert, dort sind die Nutzeranteile im ÖPNV sehr viel höher, das ist ein Gewinn an Lebensqualität und Sicherheit für sehr viele Menschen. Zugleich ist Karlsruhe eine echte Fahrradhauptstadt, und durch die hohe Nutzung des ÖPNV ist meines Wissens der öffentliche Verkehr auch wirtschaftlich aufgestellt.

Welche Rolle könnte der individuelle Autoverkehr in Zukunft in Oberursel spielen? Welche Verkehrsmittel benötigen mehr Förderung?

Buchsein: Für größere Transporte und Reisen mit viel Gepäck oder Möbeln scheint das Auto sinnvoll und für manche Lücken im ÖPNV-System. Ein guter ÖPNV, also ein guter Rhythmus, klare Strukturen im Verkehrsraum und Barrierefreiheit brauchen mehr Förderung. Innovationen im Straßenverkehr – zum Beispiel die E-Scooter – brauchen erst gute Regeln und dürfen erst dann den Zugang erhalten. Das andersherum zu machen, ist ein riskantes Spiel zulasten der Fußgänger mit und ohne Behinderung.

Frau Buchsein, ich danke Ihnen für das Gespräch.



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