Westend, Bürgermeister, Stierstadt und die Baugebiete

Auf dem Podium (v. l.): Gudrun Dittmeyer, Hans-Georg Brum, Eva Sigrist. Foto: bg

Oberursel (bg). „Frankfurt liest ein Buch“ –bereits zum zehnten Mal findet das Lesefestival in der Mainmetropole statt. Organisiert vom gleichnamigen Verein wird es inzwischen in der ganzen Region stark beachtet. Gestartet wurde dieser ungewöhnliche literarische Event im Jahr 2010. Damals wurde der Roman „Kaiserhof 12“ von Valentin Senger gelesen. Die Idee, ein Buch über Frankfurt zum Gesprächsstoff und damit zum einem Gemeinschaftserlebnis für die Bürger von Frankfurt und seinem Umland zu machen, hatte der Verleger Klaus Schöffling. In diesem Jahr steht seit 6. Mai das Buch „Westend“ des Frankfurter Autors Martin Mosebach im Mittelpunkt. Der Büchnerpreisträger, der im Westend aufgewachsen ist und dort eher zurückgezogen lebt, absolviert anlässlich dieses Lesefestes innerhalb von zwei Wochen mehr als 20 öffentliche Auftritte.

In Oberursel hatte der Verein „LiteraTouren“ diese Idee aufgegriffen und als literarischen Auftakt für seine Ende Mai stattfindenden ersten Oberurseler Literaturtage „was uns bewegt“ zu einer Lesung eingeladen. In der Kunstbühne Portstraße las Bürgermeister Hans-Georg Brum aus Martin Mosebachs „Westend“. Interessanterweise stieß das Buch, als es 1992 erschien, zunächst auf wenig Resonanz. Mosebach, ausgebildeter Jurist, Jahrgang 1951, gilt als Konservativer und hat neben diesem 820 Seiten umfassend Werk mehr als ein Dutzend Romane geschrieben. Inzwischen ist er zu einem der renommiertesten, mehrfach ausgezeichneten deutschen Schriftsteller avanciert. In einer sehr fein ziselierten, sorgfältig ins Detail gehenden Sprache schreibt er über die Geschichte seines Viertel, dem Westend. Zwischen Beethovenplatz und Christuskirche in der Nähe vom Senckenbergmuseum, der Universität und dem Palmengarten aufgewachsen, dient ihm das feudale Westend, in dem in den 1970er-Jahren die Straßenkämpfe zwischen Studenten aus der Besetzerszene und der Polizei tobten, als magische Kulisse von Familiengeschichten.

Kunstvolle Trauerarbeit

Tief taucht er ein in die Befindlichkeiten, Liebe, Enttäuschungen, Irrungen und Wirrungen der Anwohner von Mendelssohn-, Schubert- und Schumannstraße. Mehrfach wurden die Bewohner des Viertels von der Geschichte überrollt, wechselten die Häuser durch Inflation ihre Besitzer oder wurden bei Bombenangriffen auf Frankfurt zerstört. Mosebachs Werk ist eine kunstvoll arrangierte Trauerarbeit über das Westend, das in den 1970er-Jahren in die Hände von Spekulanten fiel. Er schildert nicht nur die städtebaulichen Veränderungen, sondern auch den „Wandel der Mentalität“.

Damit das Publikum bei den vom Bürgermeister auszugsweise vorgelesenen Seiten den roten Faden nicht verlor, hatten Gudrun Dittmeyer und Eva Sigrist vorgesorgt. Auf den Stühlen, die um kleine Tischchen arrangiert standen und für eine angenehme Wohlfühlatmosphäre an diesem Abend sorgten, lagen Zettel mit der Ahnentafel der wichtigsten Protagonisten des Romans. Wie den Familien Olenschläger, oder Labonté, die sich zur Gründerzeit im teuren Westend ein hochherrschaftliches Anwesen oder eine Villa leisten konnten.

Ins Gespräch kommen

Wichtig bei dieser Lesung aber war das Miteinander-ins-Gespräch-Kommen. Dafür sorgten Gudrun Dittmeyer und Eva Sigrist. „Wie haben Sie denn die Nachkriegszeit in Stierstadt erlebt“, befragten sie Brum. Er berichtete anschaulich vom einfachen, damals noch dörflich geprägten Leben in seinem Heimatort: „Also, Ruinen wie im Westend gab es bei uns nicht, aber bei einer Fahrt nach Frankfurt konnte ich als Kind noch lange kaputte Häuser und Ruinen sehen. In seinem Roman ,Westend‘ äußert sich Martin Mosebach nicht zu den Straßenkämpfen, aber ich habe damals in Frankfurt studiert und war bei einer Demo in der Kettenhofstraße mit dabei“, erinnerte sich der Bürgermeister. Ebenso an den Verleger V. O. Stomps, der mit seiner Eremitenpresse lange Zeit in Stierstadt am Bahndamm zu Hause war. „Die Stierstädter haben damals nicht so ganz verstanden, was da stattfand, aber die Literaten die Stierstädter und ihre Welt auch nicht wirklich“ bemerkte Brum launig.

An diesem Abend kam man wirklich ins Gespräch. Auf die Frage aus dem Publikum, was er von immer neuen Baugebieten halte, stellte er klar: „Wir brauchen die Landschaft. Im Umkreis einer Metropole ist das ganz wichtig. Aber Nostalgie bringt uns in der Kommunalpolitik nicht weiter. Wir müssen maßvoll agieren, den innerstädtischen Raum verdichten und Baulücken schließen, an passenden Randlagen vielleicht auch mehr Höhe nutzen, denn viele Menschen benötigen dringend Wohnraum, den sie noch bezahlen können.“ „Bücher sind doch ein wunderbarer Anlass, um miteinander ins Gespräch zu kommen“, befand Gudrung Dittmeyer zum Abschluss und versprach: „Wir machen weiter“. Gelegenheit dazu gibt es am letzten Maiwochenende, an dem ganz Europa zur Wahl aufgerufen ist.



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