Häusliche Gewalt hat viele Gesichter

Die Leiterin des Awo-Frauenhauses Lotte Lemke und der Beratungsstelle in Bad Homburg, Dagmar Wacker. Foto: fch

Hochtaunus (fch). Häusliche Gewalt gegen Frauen – und ihre Kinder – ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Die in der kriminalstatistischen Auswertung des Bundeskriminalamts (BKA) genannten Zahlen für 2019 zeichnen ein erschreckendes Familienbild. Im vergangenen Jahr wurden 141 792 Menschen Opfer (2018: 114 393) häuslicher Gewalt. Davon sind 81 Prozent Frauen, sprich 114 852. Von diesen Frauen wurden 117 von ihrem (Ex-)Partner getötet – zwei von ihnen lebten im Hochtaunuskreis.

Das heißt, jeden dritten Tag wurde eine Frau getötet, wie Sozialwissenschaftlerin Carla Horstkamp und ihre Kollegin, Sozialarbeiterin Anja Körneke, vom Verein „Frauen helfen Frauen – Hochtaunuskreis“ berichten. In Friedrichsdorf steht von Gewalt betroffenen Frauen ihre Kollegin Claudia Rinn zur Seite. Eine weitere Beratungsstelle im Kreis gibt es in Usingen. Der Verein ist Träger der Beratungs- und Interventionsstelle und des Frauenhauses in Oberursel.

In Bad Homburg sind „Lotte – die Awo-Beratungsstelle für von Gewalt betroffene Frauen“ und das Awo-Frauenhaus Lotte Lemke seit 25 Jahren Partner bei der Suche und Realisierung eines Wegs in eine gewaltfreie Zukunft, wie die Leiterin beider Einrichtungen, Dagmar Wacker, informiert. Die genannten Zahlen bilden nur jene Straftaten ab, die zur Anzeige gebracht wurden. Die Dunkelziffer ist weitaus höher: Nach sogenannten Dunkelfeldstudien ist jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen. Im Bad Homburger Frauenhaus gibt es 16 Plätze in sechs Zimmern, in Oberursel sind es 21 Plätze. „Unser Frauenhaus ist immer voll, unabhängig von Corona. Der befürchtete Anstieg kam bisher nicht“, sagt Dagmar Wacker. Frauen berichteten nach dem ersten Lockdown, sie seien aus Angst vor Ansteckung nicht eher zur Beratungsstelle oder ins Frauenhaus gekommen. Seither nehmen die Anfragen in der Homburger Beratungsstelle aber enorm zu. Auch im Hochtaunuskreis ist das Frauenhaus ständig voll belegt. „In Hessen gibt es mehr als 30 Frauenhäuser, doch das sind viel zu wenige“, sagt Anja Körneke. BeiIm Awo-Frauenhaus Lotte Lemke haben im vergangenen Vierteljahrhundert mehr als 700 Frauen Hilfe gesucht und gefunden. Rund die Hälfte ist mit den Kindern zurück in die Partnerschaft gegangen, die andere Hälfte hat mit Unterstützung der Beratungsstellen und Frauenhäuser Trennung und den Sprung in ein gewaltfreies, eigenständiges Leben geschafft. „Die Selbstbestimmung wieder zu erlangen ist ein langer und steiniger Weg“, betont Carla Horstkamp.

Die Expertinnen sagen übereinstimmend, dass Frauen aus allen Schichten Hilfe in den Beratungsstellen suchen, sich über ihre Rechte und mögliche Hilfen informieren. „Jede Frau, die zu uns kommt, werten wir als Erfolg. Diese Frauen haben Angst und Scham überwunden, den ersten Schritt gewagt“, betont Carla Horstkamp. Ins Frauenhaus gehen jene, die über kein eigenes Einkommen, über wenige finanzielle und soziale Ressourcen verfügten. „Häusliche Gewalt kann jede Frau treffen, unabhängig von Bildungsstand, Position, sozialem Status, Alter und Religion“, betont Anja Körneke.

„Im Jahr 2019 sind 307 Klientinnen zu uns gekommen. Wir hatten 878 Beratungskontakte. Die Hälfte der Frauen war zum ersten Mal da, die andere Hälfte mehrmals“, bilanziert Carla Horstkamp. „Seit Ausbruch der Pandemie gibt es mehr niedrigschwellige Kontakte über Telefon und E-Mail. Die Zahl der Anfragen war bisher insgesamt so hoch wie im vergangenen Jahr“, fügt sie hinzu. „Wir gehen aber alle davon aus, dass sich allein durch Homeoffice und die damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens familiäre Konflikte, Ehe- und Partnerschaftskrisen verschärfen“, sagt Carla Horstkamp. Häusliche Gewalt habe viele Gesichter. Meist handele es sich um Mischformen aus körperlicher, psychischer und seelischer Gewalt. Die Bandbreite bei versuchter und vollendeter Gewalt reicht von Mord und Totschlag über Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Bedrohung, Stalking und Nötigung bis hin zu Isolation, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution. Oft brauchten die betroffenen Frauen jahrelang, bis sie sich von ihren gewalttätigen Männern trennten. Kinder seien ein Hinderungsgrund wie auch, dass Frauen mit Söhnen ab 14 Jahren keinen Platz in den Frauenhäusern finden. Die Aufenthaltsdauer in den Frauenhäusern sei zu lang, betrage durchschnittlich zwischen eineinhalb und zwei Jahren, teilweise noch länger.

Hauptgrund ist das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum. Hier sind Städte und Kreis gefordert, mit Sozialwohnungen Abhilfe zu schaffen. „Hilfreich wäre eine Ausweichwohnung während der Corona-Pandemie. Hätte eine Familie Corona, wäre es hier mit Hilfe ganz eng“, sagt Dagmar Wacker. Sie wünscht sich mehr Personal für die Kinderbetreuung. Zudem gebe es zu wenig Verurteilungen von Tätern. Auch Angebot und Kapazität von Täterberatungen müssten ausgebaut werden.

Darüber hinaus bestehe ein höherer Bedarf an therapeutischen Plätzen für traumatisierte Kinder und Frauen. Die Beratungsstellen helfen Frauen in Kooperation mit dem Job-Center, ihre Möglichkeiten auszuloten, um ihr Leben wieder eigenständig zu organisieren sowie Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufzubauen.

!Wer Hilfe braucht, kann sich an folgende Stellen wenden: Lotte – Awo-Beratungsstelle, Telefon 06172-1370993, E-Mail: fh-beratungsstelle[at]awo-hs[dot]org; Awo-Frauenhaus Lotte Lemke, Telefon 06172-967400, E-Mail: frauenhaus-hg[at]awo-hs[dot]org. Unterstützung bieten auch der Verein „Frauen helfen Frauen“, Telefon 06171-51768, E-Mail: beratungsstelle[at]frauenhaus-oberursel[dot]de, sowie das Frauenhaus in Oberursel, Telefon 06171-51600, E-Mail: fh[at]frauenhaus-oberursel[dot]de. Ansprechpartnerin ist außerdem die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Friedrichsdorf, Telefon 06172-7311303, E-Mail: frauenbeauftragte[at]friedrichsdorf[dot]de. Hilfe für Männer mit Gewaltproblemen bietet das Diakonische Werk Hochtaunus, Telefon 06172-597660, E-Mail: dw[at]diakonie-htk[dot]de. Ein Verzeichnis der hessischen Frauenhäuser gibt es im Internet unter www.frauenhaeuser.hessen.de.

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