Barrieren beginnen in unserem Kopf

Rolf Leipold und Traute Salzmann, auf dem Bänkchen in der Mitte sitzend, sind umrahmt von weiteren Mitstreitern in der IG Barrieren (v. l.): Chris Tiwa, Dr. Lucia Artner (VdK), Edgar Steck und Batoul Alsayed. Foto: Bärbel Andresen

Von Christine Sarac

Steinbach. Die Stadt will neue Wege gehen und ihre Bürger stärker an Entscheidungen rund um das Stadtgeschehen beteiligen. Daher hat sie einen Gesamtbeirat gegründet, der aus insgesamt sechs Interessengemeinschaften (IG) besteht. Wir stellen in einer Serie deren Sprecher vor und zeigen, was diese Menschen bewegt, sich zu engagieren. Diesmal geht es um die IG Barrieren.

Das Wort Barriere ist nicht gerade positiv besetzt. Mit einer Barriere assoziieren wir unweigerlich eine Hürde, und zwar eine, die wir zu nehmen nicht in der Lage sind. So scheint es. Doch Traute Salzmann und Rolf Leipold widmen dem Thema Barrieren und noch mehr deren Abbau viel Zeit und Energie. „Barrieren beginnen im Kopf“, sind sie sich beide einig. Mit ihrem Engagement bei der IG Barrieren der Sozialen Stadt versuchen sie, den Blickwinkel der Menschen zu ändern. Ganz wortwörtlich.

Sich in andere hineinzuversetzen, die vielleicht ein Handicap haben, eine andere Hautfarbe, eine andere sexuelle Orientierung als man selbst oder einfach nur einen Kinderwagen vor sich herschieben und feststellen, dass Dinge, die zuvor selbstverständlich waren, wie durch enge Supermarktgänge zu schweifen, plötzlich zu einem „Problem“ werden können. „Wir müssen sensibel werden für die unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Mitmenschen. Was für den einen bequem ist, kann für den anderen ein unüberwindliches Hindernis darstellen“, findet Rolf Leipold. Allein diese Erkenntnis könnte unsere Gesellschaft voranbringen, glauben beide. Traute Salzmann und Rolf Leipold hat das Leben dazu gebracht, den Blickwinkel zu ändern. Traute Salzmann ist seit frühester Kindheit stark sehbehindert. „Ich kann ganz viel, fast alles, aber anders“, sagt die 68-Jährige. Die Mimik ihrer Gesprächspartner kann sie nicht erkennen, dafür nutzt sie einen anderen Sinn, um sich auf ihr Gegenüber einzustellen. „Die Stimme verrät mir ganz viel. Ich höre praktisch, wie der andere drauf ist“, erklärt sie. Auch ihren Tastsinn setzt Traute Salzmann geschickt ein, um ihr fehlendes Sehvermögen auszugleichen. „Normen bauen Druck bei den Menschen auf, die nicht in sie hineinpassen, trotzdem funktionieren zu müssen“, bedauert sie. Die Steinbacherin sieht sich selbst deshalb als „Botschafterin für Menschen, die nicht in die Norm passen, aber zur Gesellschaft gehören“. Sie gehe offen mit ihrer Behinderung um und habe damit bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Rolf Leipold hat sich mit Barrieren intensiver auseinandergesetzt als feststand, dass sein Sohn Autist ist. Das Wort Behinderung mögen beide nicht so gerne, bevorzugen da lieber den Ausdruck beeinträchtigt. „Weil es viel besser passt, nach meiner Ansicht“, so Leipold. „Ich bin ja nicht behindert, sondern meine Umwelt behindert mich“, erklärt er. Seit 2016 engagiert sich Rolf Leipold verstärkt sozial. Er ist als Ehrenamtler beim Sozialverband Deutschland (VdK) tätig.

Und wie erreicht man, dass Menschen ihren Blickwinkel ändern? „Ganz einfach“, sagt Leipold. „Ich lasse sie einfach mal in einem Rollstuhl Platz nehmen oder setze ihnen eine Brille mit eingeschränktem Sehfeld auf. Diese Erfahrung macht ganz viel mit Menschen“, weiß er. Zum Beispiel beim Projekt sozial-ökologisches Schuljahr, das die Soziale Stadt in Kooperation mit der Phorms-Schule und dem VdK durchführt. Hier sollen die Jugendlichen unter anderem für die Belange älterer Menschen sensibilisiert werden. „Teil dessen ist ein Sinnesparcours, bei dem wir genau mit den beschriebenen Hilfsmitteln arbeiten“, erklärt Leipold. „Da bleibt viel hängen, und die Kinder tragen ihre Erfahrungen dann in ihre Familien. Das sehe ich als große Chance.“

Steinbach sei in puncto Barrierefreiheit gut gerüstet, sagen beide. „Die Untergasse wurde so gestaltet, das ist genial“, freut sich der 65-Jährige. Traute Salzmann ergänzt: „Seit die Postfiliale in die Berliner Straße umgezogen ist, ist auch diese barrierefrei zu erreichen.“

Beide hoffen, dass die IG Barrieren bei künftigen Projekten innerhalb der Stadt bei Planungen mit ins Boot geholt wird. Auch bei der dritten Stadtrallye am 25. September wird die IG mitmachen. Unter dem Thema „Rollator und Rollstuhl“ werden die Mitglieder den Besuchern ermöglichen, beides auszuprobieren. Ein größerer Wunsch der beiden ist jedoch, dass sich noch mehr Steinbacher finden, die bei der IG Barrieren ihre Ideen einbringen. „Wir leben in einer vielfältigen Welt, daher brauchen wir auch ganz viel Input.“

!Das nächste Treffen findet am Mittwoch, 7. September, um 19 Uhr im Gemeindezentrum St. Bonifatius statt, das übrigens auch barrierefrei ist.



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