„Beschämendes Zeugnis für das absolute Versagen des Westens“

Traurig und zornig zugleich: Nadjib Yussufi, der vor 75 Jahren in Kabul geboren wurde und seit 30 Jahren in Steinbach lebt. Foto: HB

Steinbach (HB). Diese Woche ist er 75 geworden, doch eigentlich gab es nichts zu feiern. Die Bilder aus Afghanistan sind für Nadjib Yussufi allzu beklemmend. Sie machen ihn traurig, aber auch zornig. Jussufi lebt seit 30 Jahren in Steinbach, aber der Doktor der Philosophie hat kaum ein Jahr verstreichen lassen, in dem er nicht in Kabul war, seiner Geburtsstadt. Seine Kontakte reichen bis zu den Schaltstellen der Politik. Aus seinem Haus in der Brummermannsiedlung telefoniert er täglich mit der Heimat. Er sagt, die Taliban hätten sich verändert. Sie seien diplomatischer geworden. Doch sicher ist er sich nicht. Es bleiben Fragezeichen

Er erinnert sich an seine Reaktion vor knapp 20 Jahren, als die Macht der Taliban gebrochen schien und der Diplomjournalist, auch ein erfahrener Entwicklungsmanager, nach langer Abwesenheit wieder in Kabul landete: „Ich habe geweint.“ Seine Geburtsstadt war nach dem Bürgerkrieg ein Trümmerfeld. Die Menschen hatten geschundene Füße. Fingerbreite Risse in der Haut, als hätten sie keine Schuhe getragen. Das Stadtbild hat sich seitdem positiv verändert, aber die Angst vor einem neuerlichen Schreckensregime der Taliban ist zurückgekehrt.

Doch Yussufi glaubt, dass die Gotteskrieger durch die Verhandlungen in Doha dazugelernt haben, kompromissbereiter geworden sind, erkannt haben, dass sie nicht gegen die ganze Welt regieren können. Seine Hoffnung ruht auf Mullah Bradar, dem Anführer und Chefdiplomaten der Turbanträger. Der verhandelt momentan mit Abdullah Abdullah in dessen Kabuler Haus. Auch der frühere Staatspräsident Hamad Karsai gehört zu der Runde. Yussufi hat Informationen aus erster Hand, denn er gehört seit 2009 zum Beraterstab Abdullahs, dem früheren Außenminister und heutigen Chef der Friedensmission. Bis Ende dieser Woche, so seine Einschätzung, werde man sich einigen. Die Taliban sollten Externe in die künftige Regierung holen, der Friedensmission eine Kontrollfunktion einräumen. Yussufi meint, über die Taliban könne man erst nach einem Jahr ein Urteil sprechen. Wenn sie klug handelten, dann würden sie Verwaltungsfachleute übernehmen und auf junge Leute mit guter Ausbildung setzen. Auch auf Frauen.

Die Bilder vom Flughafen in Kabul haben für Yussufi Symbolgehalt. „Sie sind ein beschämendes Zeugnis für das absolute Versagen des Westens, der ohne Konzept Afghanistan verlassen hat.“ Klare Worte findet der Steinbacher aus Kabul, der Anfang der 1980er-Jahre ein Jahr lang Leiter des Goethe-Instituts in der afghanischen Hauptstadt war, auch für das Verhalten des an den Golf geflüchteten Staatspräsidenten Asharaf Ghani, den er als Verräter und Dieb bezeichnet, der sich mit 164 Millionen Euro aus der Staatskasse und einer Entourage von 50 Personen aus dem Staub gemacht habe.

Ob er und seine Frau oder seine beiden Kinder jemals an den Hindukusch zurückkehren, bleibt eine offene Frage. Eigentlich habe er genug für sein Land getan, meint der 75-Jährige. Aber natürlich steht er bereit, wenn ihn der Ruf ereilen sollte.



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