„Die Flucht war der einzige Ausweg“

Suren Parunakyan aus Steinbach (stehend) hat seinen Freund Arzish und dessen Familie aus Kiew nach ihrer Flucht aus der Ukraine bei sich aufgenommen. Die Familie flüchtete per Zug nach Polen. Foto: HB

Von Hans-Jürgen Biedermann

Steinbach. Deutschland hat seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine circa 160 000 Geflüchtete registriert. Das bedeutet 160 000 Einzelschicksale. Auch Lena (42 Jahre) und ihr Mann Arzish (44 Jahre) aus Kiew sowie ihre beiden Kinder Yana (18 Jahre) und Pavel (elf Jahre) gehören dazu. Die Familie leidet unter den Traumata des Krieges. Sie erzählt im Gespräch mit der „Steinbacher Woche“ über den Luftkrieg in der ukrainischen Hauptstadt und ihre dramatische Flucht nach Polen.

Am Montag zur Mittagsstunde hat Lena, Arzish, Yana und Pavel die Brutalität des Krieges mit voller Wucht getroffen. Nicht zu Hause in Kiew, vielmehr in ihrer neuen Bleibe in der Daimlerstraße. Im Gewerbegebiet ist die Familie von Suren Parunakyan, einem alten Schulfreund von Arzish, für ihn und seine Lieben zusammengerückt. Der 18-jährige Sohn von Familie Parunakyan hat sein Zimmer für Lena, Arzish, Yana und Pavel geräumt. Die Vier sitzen auf der Couch im Wohnzimmer, da führt sie ein Handy-Video schlagartig zurück in den unerträglichen Alltag der ukrainischen Hauptstadt. Es zeigt den Feuerball nach einem Raketeneinschlag in das Gebäude direkt neben ihrem neunstöckigen Wohnhaus, in dem die 36 Einheiten zu diesem Zeitpunkt noch intakt sind. Für die Flüchtlinge steht fest: Sofern die Russen den Krieg gewinnen, werden sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Auf keinen Fall.

Doch zurück zum Beginn ihrer Geschichte. Es war der Morgen des 24. Februar. Der russische Angriff kam für die Familie völlig unerwartet. Nie und nimmer hatten sie damit gerechnet, dass die „russischen Nachbarn“ auf ihre „Brüder“ schießen würden, versichert die Familie. Suren bot seinem Schulkameraden Arzish sofort an, nach Steinbach zu kommen. Am nächsten Tag schlug eine Rakete im Fernsehturm von Kiew ein, und alle zehn Minuten wurde im Wohnturm Fliegeralarm gegeben. Daraufhin suchte die Familie im Keller Schutz, weil die öffentlichen Luftschutzbunker hoffnungslos überfüllt waren. Die Lage war lebensbedrohlich, die Flucht für sie der einzige Ausweg. Sie packten Koffer und Taschen, steckten ihre Papiere ein, und dann begann abends um 8 Uhr, nach sechs Stunden zermürbenden Wartens auf dem Bahnhof, eine Odyssee. Der Zug war proppenvoll. Lena und die Kinder drängten sich Schulter an Schulter auf einer Sitzbank, der Vater musste bis zum Zielbahnhof im polnischen Breslau stehen – 40 Stunden lang. Seitdem schmerzen sein Rücken und die Beine so heftig, dass er kaum noch schlafen kann. Bevor sie die polnische Grenze passierten, wurde der Zug – kein Mensch wusste warum – 15 Stunden lang festgehalten. An Bord kollabierten die Menschen, schrien Kinder vor Hunger, gab es weder Essen noch Trinken. „Es herrschte Chaos“, erinnert sich Lena. In Breslau wurden die Ukrainer schließlich von ihrem Freund aus Steinbach abgeholt.

Sie sind dankbar für die Hilfe, aber auch tieftraurig über die Brüche in ihrem Leben. Arzish hat seinen Laden, einen Imbiss, zurückgelassen. Lena ihre Arbeitsstelle in der Krankenhaus-Verwaltung. Yana musste ihr Journalistik-Studium – mit einem schon terminierten Praktikum bei einer Kiewer Zeitung – unterbrechen. Pavel war vor dem Krieg ein begabter Fußballer bei Lokomotive Kiew. Immerhin kann er beim FC Weißkirchen trainieren. Fußballschuhe hat er aber noch keine.

Die Erinnerung an den Krieg lebt bei allen Vier immer wieder auf. Wenn im Gewerbegebiet eine Lastwagenhupe dröhnt, erinnert sie das an Sirenengeheul. Wenn im Supermarkt ein Stapel Paletten umkippt, empfinden das die Flüchtlinge, als krache ein Haus zusammen. Lena sieht die Fernsehbilder vom Krieg und weint oft. Ihre Eltern leben noch in Kiew – ihr schwerkranker Vater würde die Flucht nicht überleben.

Doch auch in Deutschland ergeben sich für die Flüchtlinge schwierige Situationen. Psychologische Hilfe und Unterstützung durch den Arbeitskreis für Solidarität und Frieden täte der Familie gut, doch seit der Registrierung im Rathaus vor einer Woche gab es keinen Kontakt – weder zur Stadt noch zum für die Flüchtlinge zuständigen Hochtaunus- kreis. Der bittet um „Geduld“.

Bürgermeister Steffen Bonk teilt mit, dass sich der Arbeitskreis für Solidarität und Frieden am kommenden Mittwoch wieder treffen wird. Dann soll auch das „Patenmodell“, das bereits während der Flüchtlingswelle aus Syrien im Jahr 2015 etabliert wurde, wiederbelebt werden. Dabei geht es darum, dass Freiwillige in ihrer Freizeit Geflüchtete im Alltag unterstützen und bei Behördengängen begleiten. „Wir haben außerdem Steinbacher Bürger mit ukrainischen und russischen Wurzeln angeschrieben und um Unterstützung als Dolmetscher gebeten“, so Bonk. „Weder die Stadt noch der Kreis verfügen über Psychologen, aber wer sich seine Erlebnisse gern von der Seele reden möchte, findet eine Begleitung durch die beiden Kirchengemeinden, die auch Mitglieder im Arbeitskreis sind“, erläutert der Rathauschef.

Auch einen Sprachkurs würde die Kiewer Familie sofort besuchen, überdies ein Zusammentreffen mit Landsleuten begrüßen. Familie Parunakyan hat die Verpflegung der Flüchtlinge bislang aus eigener Tasche bezahlt, kann das jedoch nicht mehr lange durchhalten und wäre über eine Überbrückung glücklich. „Wichtig ist, dass die Geflüchteten sich beim Ausländeramt des Hochtaunuskreises registrieren, damit ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt werden kann“, betont Steffen Bonk. „Wer sich bei uns im Meldeamt des Bürgerbüros registriert, muss nicht beim Ausländeramt des Hochtaunuskreises vorstellig werden, wir leiten alles direkt weiter“, erläutert Bonk den Prozess. Mit der Aufenthaltsgenehmigung geht ein Anspruch auf Hartz IV einher. „Ich werde aber der Frage nachgehen, ob Privatpersonen, die Geflüchtete aufnehmen, auch einen Ausgleich bekommen“, verspricht Steffen Bonk.



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