Reformation, Aufklärung und die Entstehung der modernen Welt

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Schilling bemühte sich, 500 Jahre Geschichte in seinem 45-minütigen Vortrag unterzubringen. Foto: Krüger

Königstein (sk) – Mit der diesjährigen Vortragsreihe zum Thema „Zeit des Umbruchs – Ende alter Gewissheiten“ setzt sich das Königsteiner Forum mit Veränderungen in unserem Weltwirtschaftssystem, mit Umbrüchen in Wissenschaft und Technik und mit der Intensivierung der Digitalisierung auseinander. Dabei stehen die Fragen im Fokus, was passiert, wenn gewohnte Vorstellungen ins Rutschen geraten und wie erleben wir die durch Umbrüche in der Welt verursachten Ängste und ihre Rückwirkung auf unser Wertesystem? Diesem Themenkreis widmet sich das Königsteiner Forum in diesem Jahr. Der Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Schilling am vergangenen Montag in der bis auf den letzten Sitzplatz belegten Frankfurter Volksbank zum Thema „Reformation, Aufklärung und die Entstehung der modernen Welt – Der Geist der Neuzeit“ bildete den Auftakt zu der neuen Vortragsreihe und setzte zugleich einen eindrucksvoll hohen Maßstab für die folgenden Beiträge. „Eine Wucht war dieser Vortrag“, ließ sich eine Zuhörerin ihre Begeisterung entlocken. Und in der Tat traf bestimmt einen Großteil der Zuhörer mit Wucht die Erkenntnis, dass es noch sehr viel zu lesen gibt über dieses komplexe Thema.

Prof. Schilling grenzte das halbe Jahrtausend, über das er binnen 45 Minuten zu referieren gedachte, in drei Themenkomplexe ein: Betrachtung von Martin Luther als einen Fremden in einer für uns völlig fremden Welt, Bedeutung dieses fremden Luthers in unserer Zeit und Luther in der Neuzeit. „Was würde Luther heute zum Fracking sagen“, sei der Referent einmal gefragt worden. Eine Frage, so Prof. Schilling, die einen Luther als heutigen Menschen in unserer Zeit mit all unserem heutigen Wissen betrachte. Aber nach Auffassung von Prof. Schilling kann man Luther nicht zu einem von uns machen, um in seinen Aussagen Antworten auf Fragen zu finden, die unser heutiges Dasein betreffen. Vielmehr müsse man sich Luther als Fremden in einer Epoche gewaltsamer Auseinandersetzungen annähern. Luther selbst beschrieb sich als einen „groben Bahnbrecher“, dem die gewaltsamen Exzesse um ihn herum bekannt waren, der aber auf der Suche nach verlässlichen Wahrheiten eine tiefe Verunsicherung verspürte. „Wir müssen Luther als einen Menschen in einer psychosozial äußerst belasteten Situation begreifen, der im Ringen um sein Seelenheil enorme Ängste entwickelte, aus denen er letztlich seine Wahrheiten ableitete“, erklärte Prof. Schilling und führte aus, dass in Luthers Zeit die Emotionen, das Denken, die Handlungsräume und Hoffnungen der Menschen ganz entscheidend geprägt waren von der Existenz des Teufels und seiner Dämonen, was erst im Zuge der Aufklärung einen fundamentalen Wandel erfuhr.

„Luthers Denkansätze und seine Lösungen in seiner Zeit sind uns in unserer Zeit völlig fremd“, leitete der Referent den zweiten Themenkomplex provokant ein und belegte seine These mit mehreren Beispielen. So müsse man Luthers sozial- und gesellschaftskritische Ansätze im Lichte seines religiösen Kerns betrachten. Seine intensive Beschäftigung mit der Rechtfertigungslehre beeinflusste sein Denken zutiefst. Luther hatte bis dahin immer unter dem Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit im Leben und des drohenden Gerichts nach seinem Tod gelitten. Die Erkenntnis, dass weniger frommes Verhalten als vielmehr die Gnade von Gott entscheidend sei, bedeutete eine religiöse Wende in Luthers Denken. Allerdings bestand Luther auf seinem absoluten Wahrheitsanspruch und hegte Vernichtungsfantasien gegen alle, die seine Wahrheit in Frrrrrage stellten.

Sein Absolutheitsanspruch mündete in eine Bitterkeit, die mit Blick auf seine späten antijüdischen Schriften eine Fundamentalfeindschaft der Religionen erklärte. In kultureller und weltanschaulicher Sicht war Luther ein politischer Mensch, der anderen geduldig erklären konnte, was an seiner Religion wichtig war. Es gelang ihm, die neue Kirchenordnung den Menschen verständlich zu machen. „Luther konnte die Leute mitnehmen“, fasste Prof. Schilling den hemdsärmeligen groben Bahnbrecher zusammen. Als im Zuge der Reformation der Glaube „weltlich“ wurde und nicht mehr nur in Klöstern und Kirchen existent war, sondern den Alltag der Menschen beherrschte, wurde der Glaube zu einem die Welt durchdringenden System. Und Luther wurde ein Verfechter des modernen partizipatorischen Staates und der Zivilgesellschaft sowie ein Obrigkeitsgegner. Man könne ihn sogar als Begründer des Fürsorgestaates benennen, so Prof. Schilling. In globalgeschichtlicher Hinsicht hat die Weltwirkung der Reformation nicht mit Luther begonnen, sondern war ein Ergebnis eines neuen, vom Humanismus und der Renaissance geprägten europäischen Weltwissens. Aus der Perspektive einer konfessionellen, weltanschaulich differenzierten Blickachse dynamisierte Luther den Wandel als Motor der Freiheit mit dem Ergebnis der Spaltung der Christenheit.

Und was bedeutet Luther für uns in der modernen Welt? Auf der einen Seite gehörte Luther mit seinen Angstneurosen, Leidenschaften und seiner inbrünstigen, mystischen Sehnsucht nach Gottesnähe, Gerechtigkeit, Erlösung noch ganz und gar ins Mittelalter, aber auf der anderen Seite lebte er moderner, freier, radikaler und individueller als viele unsere heutigen Freiheitsikonen und trägt deshalb einen großen Anteil an der sich modernisierenden Welt.

In der abschließenden Diskussion über diesen durchweg interessanten Vortrag nahm Prof. Schilling Stellung zu der Frage, ob und mit welchen Mitteln der Fundamentalismus zu überwinden sei und ob der Islam wissenschaftsfeindlich sei. Der Referent vertrat die Auffassung, dass wir mehr Bescheidenheit brauchen sowie eine Abkehr von unserer Arroganz in Europa. Wir haben selbst erlebt, wie die Religion Veränderungen durchlebt hat. Der dreißigjährige Bürgerkrieg brachte schließlich eine Verwüstung und allseitige Verrohung. Die heutige Eskalation der Machtkämpfe und der großen Glaubenskriege im arabischen Raum haben darin ihre Vorbilder.

Prof. Schilling wies zum Abschluss seines hochgelobten Vortrages auf seine zwei aktuellen Veröffentlichungen zum Vortragsthema hin. „Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ aus dem Jahr 2012 in mittlerweile vierter Auflage und das ganz aktuelle Buch „Weltgeschichte eines Jahres“, das erst Mitte Februar 2017 ausgeliefert wird.



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